Mit Kopf und Herz gegen das Vergessen
Stolpersteine: Aktionskünstler Gunter Demnig berichtet im evangelischen Gemeindehaus von Groß-Gerau vor 80 Besuchern über sein Projekt – Überrascht von großem Interesse
Überrascht zeigte sich der Kölner Aktionskünstler Gunter Demnig am Mittwochabend im evangelischen Gemeindehaus der Stadtkirchengemeinde über das unerwartet große Interesse an seiner Stolpersteinverlegung in Büttelborn, an der mehr als 100 Menschen teilnahmen. Ebenso überrascht war er, dass am Abend noch einmal rund 80 Besucher gekommen waren, um mehr über seinen künstlerischen Werdegang zu erfahren.
Die Idee der Stolpersteinverlegung beruhe auf zwei Säulen, denn zunächst seien Initiativen und Recherchen notwendig, dann müsse die Aktion von Paten finanziert werden, erklärte Demnig. Als er sein Projekt vor 20 Jahren startete, habe er nicht geglaubt, bis heute 28 000 Stolpersteine verlegen zu können. „Du wirst niemals die Million schaffen, aber fang einfach an“, habe ihm ein befreundeter Pfarrer Mut gemacht.
Inzwischen hat Demnig in zehn europäischen Ländern und 620 deutschen Kommunen mit seinen Steinen Zeichen der Erinnerung gesetzt. Gerade weil das Schicksal von einzelnen Personen mit der Gravur deutlich werde, interessieren sich besonders Jugendliche für die blank polierten Stolpersteine, hat Demnig festgestellt. Ein Hauptschüler habe ihn gesagt, man stolpere mit dem Kopf und dem Herzen darüber.
Gunter Demnig, der zunächst Pilot werden wollte, dann aber Kunstpädagogik und Freie Kunst studierte, beschäftigte sich schon zu Beginn seines künstlerischen Schaffens mit Aktionen im öffentlichen Raum. So habe er in den siebziger Jahren aus Protest gegen den Vietnamkrieg in einem Atelierfenster die Sterne der US-Flagge durch Totenköpfe ersetzt. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gesamthochschule Kassel lief er mit einer Farbwalze über 800 Kilometer von Kassel nach Paris, um die beiden Städte mit dem längsten Kunstwerk und dem Wort „Duftmarken“ auf dem Straßenasphalt zu verbinden. Eine ähnliche Aktion wiederholte er auf dem Weg von Kassel nach London und spannte einen roten Faden von Kassel nach Venedig, versenkte „Flaschen-Post“ oder verlegte Bleirollen auf Berliner Straßen.
Mit einer Kreidespur zeichnete er 1990 den Weg der Deportation von tausend Sinti und Roma aus Köln im Jahr 1940 nach. Dabei sei die Idee gereift, die Kreidespuren an einigen Stellen mit dauerhaftem Material zu konservieren. So sei ein Messingschriftzug entstanden, der heute an mehreren Orten in Köln zu sehen ist, beispielsweise vor dem Dom oder dem Platz des Gestapo-Hauptquartiers. Aus all diesen Aktionen habe er, Schritt für Schritt die Stolpersteine entwickelt, die nicht nur an jüdische Opfer, sondern auch an alle anderen von den Nationalsozialisten Getöteten, Vertriebenen oder Gequälten erinnern sollen.
Dekan Tankred Bühler bedauerte, dass es das Groß-Gerauer Stadtparlament vor zwei Jahren mehrheitlich abgelehnt habe, Stolpersteine verlegen zu lassen. Damals hätten sogar 200 Schüler Unterschriften gesammelt. „Man muss sich schämen für den Beschluss“, meinte Bühler und hegte die Hoffnung, dass die Stolpersteine mit den neuen Mehrheitsverhältnissen im Rathaus im zweiten Anlauf Zustimmung finden.
Der Vorsitzende des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen, Moritz Neumann, habe sich für das Projekt ausgesprochen, sagte Bühler und teilte mit, dass es für 38 Steine bereits Paten gebe. In Büttelborn sei darüber nicht lange diskutiert worden, denn die Entscheidung für die Stolpersteine sei dem Gewissen verpflichtet gewesen, erklärte Bürgermeister Horst Gölzenleuchter.
Christian Wieser (CDU), dessen Fraktion gegen die Stolpersteine stimmte, erklärte die Ablehnung mit der Haltung der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch. Diese sei mit ihrer Meinung innerhalb des Zentralrats inzwischen isoliert, betonten Bühler und Demnig.