von Erich Fromm
„Zunächst fassen die Bibel und später der Talmud Arbeit nicht als körperliche Anstrengung auf, sondern die Definition lautet etwa: „Arbeit“ ist jedes Eingreifen des Menschen – sei es konstruktiv oder destruktiv – in die physische Welt. „Ruhe“ ist ein Zustand des Friedens zwischen Mensch und Natur. Der Mensch muß die Natur unberührt lassen, er darf sie in keiner Weise verändern, indem er etwas darin neu errichtet oder auch zerstört. Selbst die kleinste Veränderung, die der Mensch im Naturgeschehen vornimmt, stellt eine Verletzung der Ruhe dar. Der Sabbat ist der Tag vollkommener Harmonie zwischen Mensch und Natur. „Arbeit“ ist jede Art von Störung des Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur. Auf Grund dieser allgemeinen Definition können wir das Sabbatritual verstehen.
Jede schwere Arbeit – wie Pflügen oder Bauen – ist Arbeit in diesem wie auch in unserem modernen Sinne. Aber ein Streichholz anzünden oder einen Grashalm aus der Erde ziehen, das erfordert zwar keine Anstrengung, aber beides ist ein Symbol für das Eingreifen in den Naturablauf, es stellt einen Bruch des Friedens zwischen Mensch und Natur dar. Dieses Prinzip erklärt uns, warum der Talmud verbietet, irgend etwas, und sei es auch noch so leicht, mit sich zu tragen. An sich ist das Tragen nicht verboten. So darf ich zum Beispiel innerhalb meines eigenen Hauses oder Grundstücks eine schwere Last tragen, ohne dass ich damit das Sabbatgebot verletze. Aber ich darf nicht einmal ein Taschentuch von einem Bereich in einen anderen bringen – zum Beispiel aus einer Wohnung in den öffentlichen Bereich der Straße. Dieses Gebot stellt eine Ausweitung der Idee des Friedens vom sozialen Bereich der Natur dar. Der Mensch darf nicht in das Gleichgewicht der Natur eingreifen oder es verändern, genauso wenig wie er das soziale Gleichgewicht ändern darf. Das bedeutet nicht nur, dass er keine Geschäfte betreiben darf, sondern dass er auch die einfachste Form der Übertragung von Besitz, nämlich seine Beförderung von einem Bereich in den anderen, vermeiden muss.
Der Sabbat symbolisiert einen Zustand der Einheit zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch. Indem man nicht arbeitet – d. h. indem man an dem Prozess von Veränderungen in der Natur und in der Gesellschaft nicht teilnimmt -, ist man frei von den Fesseln der Zeit, wenn auch nur an einem Tag der Woche.“
Erich Fromm, Ihr werdet sein wie Gott, Reinbeck