Groß-Gerau 31.05.2016
Förderverein organisiert geführten Rundgang über den jüdischen Friedhof in Groß-Gerau
Von Sebastian Philipp
GROSS-GERAU – Einmal im Jahr lädt der „Förderverein Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau“ zu einem geführten Rundgang auf den jüdischen Friedhof in der Theodor-Heuss-Straße. 1200 Gräber erinnern dort an eine religiöse Gemeinschaft, deren Nachfahren heute in alle Welt verstreut sind.
Man muss wirklich genau hinhören. Doch dann ist das Lachen zu hören, das vom angrenzenden Freibad in Groß-Gerau herüberschallt; ein unbeschwertes Lachen, das für das Heute steht. Wer nur wenige Meter weiter dem Gestern begegnen will, muss hinter eine Mauer schauen. Und am Sonntagmittag war es soweit: Mehr als 20 Zuhörer kamen, um einen Teil der Geschichte jüdischen Lebens in der Region kennenzulernen.
Eingeladen auf den jüdischen Friedhof hatte der „Förderverein Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau“, wie es einmal im Jahr zur Tradition geworden ist. Ulf Kluck, früher bei der Stadt Groß-Gerau für die Pflege des jüdischen Friedhofs zuständig, ist durchaus froh, dass es nicht so viele Menschen sind wie im vergangenen Jahr. Um die Nähe zu ihnen nicht zu verlieren, wie er sagt.
1200 Gräber entstanden bis 1939
Auch wenn der jüdische Friedhof auf das Jahr 1841 zurückgeht, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hier knapp 1200 Gräber entstanden, während von 1945 bis heute gerade einmal zwei dazu kamen: Gerade diese Diskrepanz und die Leere auf einer Seite vieler Grabsteine belegen einen beschämenden Teil deutscher Geschichte. Denn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Diktatur des Nationalsozialismus, der Pogromnacht und Vertreibung der Juden war kein Jude mehr da, der dort seine letzte Ruhe finden konnte oder wollte. Und wo die andere Seite des Grabsteins einmal für den Partner vorgesehen war, war es Realität geworden, dass die Menschen flohen, bevor sie starben oder umgebracht wurden.
„Morgen kommt Moshe Maierfeld hierher“, erzählt Ulf Kluck noch vor Beginn des eigentlichen Friedhofrundgangs. Kluck muss nicht lange überlegen, um den jüdischen Namen Maierfeld dem Riedstädter Stadtteil Crumstadt zuzuordnen. Vor ein paar Tagen sei eine Mail bei ihm angekommen – aus New Jersey (USA), wo Maierfeld heute lebt. Jetzt wolle der Mann die Gräber seiner Vorfahren besuchen, unter anderem in Groß-Gerau.
Kluck weiß aber auch: Das Interesse an Rundgängen über den jüdischen Friedhof ist nicht immer gleich groß – und stark abhängig von offiziellen Anlässen. 1988, zum 50. Gedenktag an die Reichspogromnacht, war die Resonanz weit überdurchschnittlich, der Förderverein gründete sich, die Synagoge von Erfelden wurde 1989 erworben und sollte in den kommenden Jahren restauriert werden.
Während oft Schulklassen Klucks Worten lauschen, sind es an diesem Tag viele Menschen mittleren und höheren Alters, die sich für Geschichte und die Geschichten hinter Namen interessieren. Eine Frau, die gerade vom Bahnhof gekommen ist, nutzt spontan die Gelegenheit, weil das sonst verschlossene Tor zum jüdischen Friedhof überraschend offen steht.
Viele Fragen vom jüngsten Teilnehmer
Jüngster Teilnehmer an diesem Nachmittag: der vierjährige David. Mama und Papa Fahlke verraten, dass sie ganz in der Nähe wohnen und ihr Sohn jeden Tag auf den Friedhof schauen könne und Fragen stelle. Was machen die Menschen da, die den Rasen mähen? Was ist das überhaupt für ein Ort hinter der Mauer? Und wieso stehen manche Grabsteine ganz schief?
Wer Kluck fragt, erfährt an diesem Nachmittag viel Wissenswertes. Etwa, dass der Friedhof im jüdischen Glauben nicht ganz die Rolle einnimmt wie im christlichen. Oder dass statt Blumen Steine mitgebracht werden, weil in ihrer Tradition damit an das alte Nomadentum erinnert wird, in dem Steine auf die Grabstelle der Verstorbenen gelegt wurden, damit wilde Tiere den Leichnam nicht ausbuddelten.
„Oft ist es für die Menschen schon emotional“, berichtet Kluck kurz vor dem Rundgang von jenen Momenten, in denen Angehörige eine weite Reise auf sich genommen haben, um am Grab ihrer Vorfahren zu stehen. Oder wenn sie sehen müssen, wie eine Gedenktafel an die Opfer des Ersten Weltkriegs von den Tätern des Zweiten wieder zerstört wurde.
JÜDISCHE GEMEINDE IN GROß-GERAU
(phil). Der jüdische Friedhof in der Theodor-Heuss-Straße neben dem Schwimmbad war der dritte in Groß-Gerau. Die dokumentierte Existenz einer jüdischen Gemeinde geht bereits auf das 13. Jahrhundert zurück. Ein Friedhof existierte bis 1936 an der Stelle des heutigen Parkdecks der Kreissparkasse in Groß-Gerau. Als damals das dort noch niedergelassene Landratsamt erweitert werden sollte, fand die Zwangsenteignung des Areals statt. Gemeindemitglieder retteten einige Grabsteine und sogar Gebeine auf den Friedhof in der Theodor-Heuss-Straße.