Grauen soll sich nicht wiederholen
Gedenken – In der Groß-Gerauer August-Bebel-Straße erinnern jetzt Stolpersteine an Mitglieder der Familie Mattes
Das Frösteln, das diejenigen streifte, die sich am Donnerstag zur Stolpersteinverlegung für die jüdische Familie Mattes versammelt hatten, war nicht allein dem Wind geschuldet. Eiskalt streifte die Anwesenden das Grauen, das die Unrechtsherrschaft der Nazis vor mehr als 70 Jahren zeitigte: Spätestens ab der Reichspogromnacht 1938 waren Juden ihres Lebens nicht mehr sicher.
Bei der vierten Groß-Gerauer Stolpersteinverlegung, bei der messingbeschlagene Würfel des Kölner Künstlers Gunter Demnig ins Pflaster eingelassen wurden, wurde der Familie Mattes gedacht. Sohn Arnold und den Eltern Paula und Alfred Mattes gelang zwischen 1939 und 1940 die Flucht in die USA. Damit war diese jüdische, einst hoch angesehene Familie aus der August-Bebel-Straße dem Grauen der Konzentrationslager entgangen.
Nichts als das blanke Leben gerettet„Doch sie konnten nichts als das blanke Leben retten, hatten Boykott, Entwürdigung und Enteignung erfahren – verachtet, vertrieben, entehrt“, so DGB-Ortsvorsitzender Jochen Auer. Er gehörte neben Wolfgang Prawitz, der im Namen des evangelischen Dekanats begrüßte, Landrat Thomas Will sowie Michael Montag, Schulleiter der Prälat-Diehl-Schule (PDS), zu jenen, die zur Pflicht des Erinnerns aufriefen, damit das Grauen, das geschah, weder vergessen werde noch sich wiederhole.
Hinter dem ehemaligen Wohnhaus Nummer 16 lobten die Redner das Engagement der Schüler der PDS. Sie nämlich hatten den „Auftrag des Erinnerns“, angepackt und sich auf Spurensuche zum Leben der Familie Mattes begeben. Seit 2014 befindet sich das PDS-Oberstufengebäude auf dem Gelände der einstigen Gardinenfabrik Mattes. Noch heute ist die einstige Fabrikuhr, die „Mattes Uhr“, stummer Zeuge im Foyer der PDS. Lehrer Udo Stein unterstrich, dass die Stolpersteine den Blick auf ein einzelnes Schicksal unter Millionen Opfer richten. „Ein kleiner Stein, der uns gedanklich stolpern lässt.“
Im Hof zwischen Wohnhaus der Familie Mattes und ehemaligem Fabrikgebäude lauschten Vertreter des Dekanats, der Kommunal- und Kreispolitik sowie Mitglieder des Fördervereins Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau den Referaten der Schüler. Sie bezeugten engagierte Auseinandersetzung mit dem Leben der diffamierten Familie, gaben ihrer Betroffenheit darüber Ausdruck, wie ein anerkannter Unternehmer, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatte, aufgrund seiner Religion mitsamt seiner Familie später zum Opfer wurde. Intensive Reflektion über den Unterricht hinaus beeindruckte. Die Schulgemeinde hat die Patenschaft für die drei Steine der Familie Mattes übernommen.
Künstler Gunter Demnig war nicht vor Ort, sodass der junge Steinmetz Jonathan Schulda die Stolpersteine festklopfte. „Es ist für mich, der ich meist Grabsteine fertige, eine besondere Arbeit. Mit Gedenken habe ich ja immer zu tun, hier aber berührt. mich das Schicksal doch sehr“, sagte er und strich den Sand von den glänzenden Platten.
Landrat Thomas Will zitierte die Dichterin Nelly Sachs: „Ich habe keinen Ort mehr auf der Welt. Es ist ortlos, wo ich bin.“ Dem Ausgegrenztsein wollen die Stolpersteine sichtbar entgegenwirken, wollen Ermordete und Vertriebene posthum in der Stadt beheimaten, so Will. Alfred Mattes, Jahrgang 1882, und Paula Mattes, 1885 in Trebur geboren, starben 1953 und 1961 in den USA. Die Tochter von Arnold Mattes, Joan Zelkowicz aus Pittsburgh, nahm tief bewegt an der Stolpersteinverlegung teil.
Petra Kunik von der jüdischen Gemeinde Frankfurt las das Gedicht einer Jüdin vor, die als Siebenjährige im KZ war und doch überlebte: Ein kleines Mädchen trägt den gelben Judenstern mit ungebrochenem, trotzigen Stolz, eine Auserwählte in der Hand Gottes.