An Beginn der Diffamierung erinnert
Geschichte – In Walldorf wird des „Juden-Boykotts“ vom 1. April 1933 gedacht – Schüler säubern Stolperstein
MÖRFELDEN-WALLDORF.
Um sich an die leidvolle Geschichte der Juden unter der Nazi-Diktatur zu erinnern, kamen am Dienstag Walldorfer Bürger am Stolperstein vor dem Haus des jüdischen Richters Otto Ortweiler in der Farmstraße 24 zusammen. Auch eine Konfirmandengruppe der evangelischen Gemeinde Walldorf mit Pfarrer Jochen Mühl war dabei. Die Jugendlichen hatten zum Leben der Familie Ortweiler recherchiert. Zwei Konfirmandinnen polierten zudem rituell den Stolperstein aus Messing.
Bürgermeister Heinz-Peter Becker (SPD) erklärte in seinem Grußwort, dass die Nationalsozialisten bereits am 1. April 1933 den Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Anwälte veranlasst hätten. Der so genannte „Juden-Boykott“, zu dem die Nazis vom 1. bis 3. April 1933 aufgerufen hatten, war der erste Schritt der Verdrängung jüdischer Bürger aus dem Wirtschaftsleben durch einen gezielt gegen sie gerichteten Angriff. Es sei wichtig, sich zu erinnern, erklärte Becker. Die Stolpersteine im Stadtgebiet böten dafür immer wieder Anlass. „Wir wollen unser Wissen auch den Kindern weitergeben und antirassistischen Tendenzen in der Gesellschaft entgegentreten“, formulierte der Mörfelden-Walldorfer Bürgermeister.
Hans-Jürgen Vorndran, ehemaliger Erster Stadtrat und im Förderverein für Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau aktiv, hatte die Veranstaltung initiiert. Er war es auch, der seit 2007 alle Aktionen rund um die Verlegung der Stolpersteine organisiert hatte.
„Der Boykott war der Anfang der Diffamierung, der in der Deportation und Ermordung von sechs Millionen Juden gipfelte“, fasste Vorndran nun zusammen. Ganz so, wie die Nazis sich das erhofft hatten, sei der Boykott aber nicht verlaufen.
Die SA habe sich vor jüdischen Geschäften postiert und Kunden am Einkauf gehindert. Parolen auf Plakaten forderten „Kauft nicht bei Juden“ und behaupteten „Die Juden sind unser Unglück“. Es gab Plünderungen und Misshandlungen. Auch vor dem Anwesen in der Farmstraße stand ein SA-Posten. Da der 1. April ein Samstag war und dieser bei den Juden als Feiertag gilt, waren viele jüdische Geschäfte aber geschlossen. Am Abend des 1. April brach die NS-Führung den Boykott wegen der Passivität der Bevölkerung ab, obwohl er eigentlich bis zum 3. April weiterlaufen sollte.
„Im Deutschen Reich waren von 80 Millionen Einwohnern gerade mal 0,7 Prozent jüdisch. Und die sollten das ‚Unglück der Nation‘ sein?“, fragte Vorndran rhetorisch. In einer beispiellosen Hetze gegen die Juden habe Hitler die Judenverfolgung nach außen als nötige Abwehrreaktion dargestellt. Therese Ortweiler zum Beispiel sei zudem keine Jüdin gewesen, sondern eine engagierte Christin.
Zur Lebensgeschichte der Familie Ortweiler referierten die Konfirmanden: Demnach bewohnten der jüdische Richter Otto Ortweiler und seine Frau, die Ärztin Therese, ab 1930 das Haus in der Farmstraße. Auch die Arztpraxis war dort angesiedelt. Obwohl Therese Ortweiler keine Jüdin war, wurde sie boykottiert. Ihr Mann durfte ab 1935 nicht mehr arbeiten. Die Konflikte spitzten sich zu: Während der Novemberpogrome warfen Randalierer am 10. November 1938 Fensterscheiben ein. Noch in der Nacht floh das Paar.
Otto Ortweiler befand sich dann sechs Jahre auf der Flucht, versteckte sich in Deutschland und Österreich. Beide überlebten und kehrten im Juni 1946 mit Sohn Heinz nach Walldorf zurück. Therese Ortweiler betrieb wieder ihre Praxis in der Farmstraße. Ihr Mann erhielt 3600 Mark Entschädigungsgeld – für zehn Jahre Arbeitsverbot. 1958 starb er auf dem Weg zur Arbeit an einem Herzinfarkt.