Rede zum 25-jährigen Jubiläum des Fördervereins Jüdische Geschichte und Kultur Groß-Gerau
Alles war vorstellbar, nur das eine nicht: dass jemals wieder Juden in Deutschland leben würden. Das war unvorstellbar. Ganz und gar.
Es brauchte dafür keinen Schwur und keinen Bann, wie denjenigen, den die Rabbiner nach der spanischen Inquisition und der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 ausgesprochen hatten. Er war nicht nötig, weil es schlicht unvorstellbar war, dass nach den schrecklichen Ereignissen der Naziherrschaft und nach 6 Millionen toten Juden, jemals wieder jüdisches Leben in Deutschland würde gedeihen können. Der Mutterboden war verdammt und getränkt von jüdischem Blut und der Asche verbrannter jüdischer Leiber. Keine gute Voraussetzung für einen Neubeginn also.
Und doch betrat die Geschichte – wie so oft – eigene Pfade. Wurde möglich, was eigentlich undenkbar schien. Wurde Deutschland zur neuen, alten Heimat für jüdische Menschen.
Dabei war das Deutschland des Jahres 1945 alles andere, als ein Land, in dem man sich zu Leben wünschen wollte oder konnte. Es war ein zerstörtes Land. Ein Land, das noch kurze Zeit vorher dem Größenwahn verfallen war, ein tausendjähriges Reich zu errichten und dabei gut 50 Millionen Tote hinterließ.
Es war aber vor allem eines: Ein Land ohne Juden.
Von den einst gut 700000 in Deutschland lebenden Juden, war nichts geblieben, außer einem kläglichen Rest von Überlebenden.
Das einst blühende jüdische Leben der Vorkriegszeit lag in Trümmern. Die religiösen, sozialen, erzieherischen und kulturellen Angebote ebenso wie die jüdischen Sportvereine, Religionsschulen, die Gemeinden und Synagogen. Die kulturellen, religiösen und geistigen Grundlagen der jüdischen Tradition, die über Jahrtausende zurückreichen und deren religiöses Erbe zum moralischen Fundament der westlichen Welt geworden sind, waren in den Flammen brennender Bücher, Synagogen und brennender Leiber in Rauch aufgegangen.
Als der Schrecken vorüber war, die Tore der KZs aufgebrochen von den Soldaten der alliierten Armeen, der Zusammenbruch des mörderischen Regimes mit großem Blutzoll erreicht, da waren es nur wenige Juden, die wieder in ihre Heimatstädte zurückkehrten. Einige betrachteten Deutschland als Umsteigebahnhof auf dem Weg in andere Länder, die bereit waren, Juden aufzunehmen. Andere waren zwangsweise hier untergebracht. In sogenannten DP-Lagern. Lagern, in denen die Displaced Persons, die heimatlosen, entwurzelten und traumatisierten Menschen interniert wurden. So mischten sich die Befreiten aus den Konzentrationslagern, die im letzten Moment dem Tod entronnen waren mit den wenigen Menschen, die aus der Emigration zurückgekehrt waren.
Manch einer wollte bleiben, die meisten aber wollten weg aus Deutschland. So schnell wie nur möglich. Doch das war leichter gesagt als getan. Denn nicht nur die Regierungen der avisierten Wunschausreise-Ziele, wie England, Amerika, Australien oder Kanada machten vielen Auswanderungswilligen einen Strich durch die Rechnung.
Auch die persönliche Situation der Juden, die oftmals von psychischen Traumatisierungen, Krankheiten und körperlichen Gebrechen geprägt waren, die sie als unauslöschliche Erinnerung an das Grauen in den Arbeits- und Vernichtungslagern zurückbehalten sollten, hinderte sie oftmals daran, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.
Also blieben sie erst einmal nolens volens.
Sie organisierten ihr bescheidenes soziales, kulturelles und gesellschaftliches Leben in den Lagern von Grund auf neu und standen dabei unter ständiger Aufsicht der Alliierten. Sie gründeten Zentralkomitees, Schulen und Beträume und versuchten das Grauen durch eine Normalisierung des Alltags zu überwinden.
Dabei entwickelten sie einen erstaunlichen Lebenswillen, der sich darin zeigte, dass in den DP-Lagern zwischen 1945 und 1947 ca. 2000 Babys geboren wurden. Nirgendwo sonst auf der Welt, entwickelte sich die jüdische Gemeinschaft so schnell, wie in Deutschland, so rasant wie in den Internierungslagern.
Nirgendwo sonst wurden Verlust und Tod so schnell vertrieben und das Leben durch zahllose Geburten geheiligt.
Den meisten DPs, die zeitweise immerhin auf gut 200.000 Personen angewachsen waren, gelang es, Deutschland bald wieder zu verlassen und nach und nach in ihre Wunschländer auszuwandern.
Zurück blieben schließlich etwa 12.000 Juden in Deutschland, die bis zum Beginn der 50er Jahre auf etwa 20.000 Seelen anwuchsen. Sie waren der Kern dessen, was heute als jüdische Gemeinde Deutschlands bezeichnet wird.
Und sie speiste sich aus unterschiedlichen Gruppen und Nationalitäten. Aus den unfreiwillig Gestrandeten, die dem Grauen der Konzentrationslager entkommen sind oder aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Aus denjenigen, die aus unterschiedlichen Motiven geblieben oder aber zurückgekehrt waren. Aus denen, die aus Krankheitsgründen in keinem anderen Land der Welt Aufnahme fanden oder aber keinen Neuanfang in der Fremde wagen wollten. Aus jenen, welche aus kulturellen Gründen blieben, weil sie Deutschland nach wie vor und trotz allem als ihre Heimat betrachteten. Aus solchen, die politische Motive zur Grundlage ihrer Entscheidung machten und aus denen, die einfach daran glaubten, dabei helfen zu können, ein besseres Deutschland aufzubauen.
Jüdische Organisationen wurden gegründet oder wiedergegründet, wie etwa der Zentralrat der Juden in Deutschland im Jahr 1950 und verliehen dem jüdischen Leben in Deutschland den äußeren Anschein von Normalität.
Doch der Schein trog. Stattdessen entwickelte sich eine bescheidene Parallelwelt, eine immer noch fragile Existenz.
Diese Existenz, die auf tönernen Füssen zu stehen schien, war auf deutscher wie auf jüdischer Seite von einer nicht zu übersehenden Distanz geprägt. Auf der einen Seite herrschte tiefsitzendes Misstrauen, auf der anderen Seite das schlechte Gewissen und die Abwehr, die von Scham und Verdrängung genährt wurde.
Bei den einen saß die Indoktrination der Nazi-Jahre, die sich mit dem nach wie vor existenten kirchlichen Antisemitismus gepaart hatte, noch im Kopf, bei den anderen mischten sich Panik nach all dem unermesslichen Leid, Furcht vor der Wiederholung und Wut, dass so viele Täter ungeschoren davon kamen: Politiker, Wirtschaftskapitäne, Ärzte, Juristen, Lehrer, Polizisten. Die Architekten und Baumeister des Grauens kamen oft ebenso davon, wie die zahllosen „kleinen Leute“, also etwa die früheren Nachbarn, die sich gern mal nebenbei ein bisschen mitbereichert hatten.
Und über allem schwebte das schlechte Gewissen: bei den einen wegen der kaum dar- und vorstellbaren Verbrechen an den Juden und wegen des eigenen Verhaltens, bei den anderen wegen ihres Lebens ausgerechnet im Land der Henker.
So fristeten die Juden ihre neue Existenz. Fremd im eigenen Land. Und wurden dabei von Freunden und Verwandten im Ausland oder Organisationen wie dem World Jewish Congress oder der Jewish Agency harsch kritisiert, weil sie das Land der Mörder noch nicht verlassen hatten und diesem stattdessen durch ihr Bleiben ein gewisses Maß an Legitimation verliehen.
Außenpolitisch nahmen Deutschland und Israel während dessen langsam aber sicher Tuchfühlung auf, die schließlich in der Aufnahme politischer Beziehungen im Jahr 1965 gipfelte.
In dieser Phase, den 60er und 70er Jahren, verfestigte sich das ursprüngliche Provisorium jüdischer Existenz in Deutschland zusehends. Und obwohl der Gedanke an Auswanderung noch immer bestand, wurde er durch die Probleme des Alltags oftmals beiseite geschoben. Pläne sind eben eine Sache, die Realität ist oftmals eine andere.
Neue Generationen wurden geboren und wuchsen in relativer Ruhe heran. Es gab zwar nur wenige Juden hierzulande, aber im Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung waren es viele, vor allem Bankiers und Immobilienhändler. In den Medien fanden Juden in dieser Zeit entweder in historischen Rückblicken oder anlässlich von Gedenktagen statt.
Dann nahte das Jahr 1979 und eine Hollywood-Serie mit dem Namen „Holocaust“ veränderte die Sichtweise vieler Deutscher auf die Juden und die Shoa. Denn plötzlich wurde man gewahr, dass hinter der Zahl 6.000.000 in Wirklichkeit Menschen standen, Einzelschicksale, die in der US-Serie exemplarisch abgebildet worden waren. Eine neue Welle der Beschäftigung mit der Nazi-Zeit und der Shoa begann, doch es sollte nicht lange dauern, da war es vielen schon wieder zu viel.
Was hingegen über Jahrzehnte konstant geblieben war und keinen unvorhersehbaren Schwankungen unterlag, war der Grad an latentem Antisemitismus. Als Alfons Silbermann in den 70er Jahren seine diesbezügliche Untersuchung vorlegte, waren es ca. 20 % der Bevölkerung, die keine Juden mochten und antijüdische Stereotype und Vorurteile pflegten. Und dabei ist es bis heute geblieben. Jeder 5. Deutsche kann Juden nicht ausstehen und hegt und pflegt sorgsam seine Vorurteile. Dabei stört es die meisten nicht, dass sie persönlich gar keine Juden kennen!
Wie dem auch sei: das deutsch-jüdische Verhältnis dümpelte vor sich hin, ohne das sich die gegenseitigen Hemmnisse in erwähnenswerter Art und Weise gelegt hätten.
Die Jüdischen Gemeinden wuchsen zwar nicht zahlenmäßig, und es wurden nur wenige Kinder geboren, aber die Aktivitäten der kleinen Gemeinschaft begannen sich dennoch zusehends zu verfestigen. Es wurde Religionsunterricht für die Kinder angeboten, es fanden G“ttesdienste an den Feiertagen statt, es wurde soziale Beratung angeboten und es wurden gesellschaftliche Treffen organisiert.
Eine zarte Pflanze, die es über Jahrzehnte hinweg nicht geschafft hatte, nachhaltig zu wachsen und dem Himmel entgegen zu streben. Klein und zurückhaltend, aber dennoch voller Energie und Lebenskraft.
Dann nahte das Jahr 1985 und in Frankfurt sollte das umstrittene Fassbender-Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ aufgeführt werden. In der festen Überzeugung, dass das Stück antisemitisch sei, besetzten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, unter Ihnen der spätere Präsident des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, s.A., und der Fernsehmoderator Michel Friedman, am Premierenabend die Bühne der Frankfurter Kammerspiele.
Mit diesem öffentlichen und politischen Eintreten für ihre Meinung und ihre Position, leiteten sie eine Wende im Bewusstsein der jüdischen Nachkriegsgenerationen ein. Mit dem vernehmbaren Protest gegen das antisemitische Stück und dem für jedermann sichtbaren Bekenntnis, für die eigenen Rechte nun auch öffentlich eintreten zu wollen, veränderte sich die Sichtweise auf die eigene Position und das Verhältnis zu dem Land, in dem man lebte.
Denn nun war offensichtlich geworden, dass Juden ihre Rechte auch öffentlich und selbstbewusst zu vertreten begannen. Sie protestierten, mischten sich ein, begannen Politik und Gesellschaft mitzugestalten. Und das wiederum tat man nur dann, wenn man sich dafür entschieden hatte, bleiben zu wollen.
So wurden die sprichwörtlich „gepackten Koffer“, die viele jüdische Familien bis dahin noch immer in greifbarer Nähe hatten, nun endlich ausgepackt oder aber zumindest in unerreichbare Ecken des Hauses verbannt.
Rosig waren die Zukunftsaussichten aber dennoch nicht. Denn obwohl ein Umdenken eingesetzt hatte, blieben die tatsächlichen Nöte bestehen. Die Situation vieler Jüdischer Gemeinden stagnierte oder entwickelte sich gar rückläufig und die Mitgliedschaft überalterte zusehends. Denn während junge Juden Deutschland oftmals Richtung Israel, Amerika oder England verließen und damit entweder dem Traum folgten, der ihren Eltern oder Großeltern verwehrt geblieben war, oder der Globalisierung gehorchend ihr Glück in der großen, weiten Welt suchten, blieben die kleinen Gemeinden mit einer auf den Kopf gestellten Alterspyramide zurück.
Und nicht wenige stellten sich seinerzeit die Frage, wie lange es wohl noch dauern werde, bis jüdisches Leben in Deutschland endgültig zu existieren aufhören werde. Wann wohl der letzte die Tür hinter sich schließen und das Licht löschen müsse.
Zwar wurden in diesen Jahren – wie etwa in Darmstadt – für die kleine und bescheidene Gemeinschaft neue Synagogen gebaut, so dass die Jüdischen Gemeinden für die Entfaltung ihrer Aktivitäten nicht nur auf räumliche Provisorien angewiesen waren, doch vielfach schienen die G“tteshäuser für die verbliebenen Juden überdimensioniert. Gleichzeitig wurden durch die intensiveren Beziehungen zu Städten und Ländern sowie durch den Abschluss von Stadt- oder Staatsverträgen, die nicht nur eine rechtliche Gleichstellung mit den Kirchen bedeuteten, sondern auch das finanzielle Überleben mancher Gemeinden sicherten, langsam aber sicher neue und zukunftsfähige Fundamente gegossen. Während also einerseits das Gefühl vorherrschte, am Beginn einer neuen Ära zu stehen, die einen tiefgreifenden Wandel im Vergleich zu der Existenz der zurückliegenden vier Jahrzehnte bedeuten konnte, plagte die demografische Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft viele Vorstände und Verantwortliche.
Doch wieder einmal verließ die Geschichte ausgetretene Pfade und bescherte der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland einen Wandel, der diesen Namen auch verdiente:
Dieser vollzog sich indessen nicht schlagartig, sondern schrittweise nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Denn in der Folge der Entscheidung der Regierung Kohl, fortan jüdischen Zuwanderern aus den Staaten der bröckelnden Sowjetunion die Erlaubnis zur Einreise und zum dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik zu gewähren, wuchs die Mitgliederzahl der Jüdischen Gemeinde in Deutschland zusehends an. Zunächst zögerlich, dann verstärkt, erfolgte ein Zuzug nach Deutschland, der die Zahl jüdischer Menschen in den darauf folgenden beinah 20 Jahren kräftig anwachsen ließ.
Die Hoffnungen auf einen inhaltlichen Vitaminstoß zur Stärkung des Alltags in der Religionsgemeinschaft erfüllten sich hingegen anfangs keineswegs. Denn niemand, weder die Bundesregierung, die die rechtlichen Grundlagen für die Zuwanderung jüdischer Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion geschaffen hatte, noch die verschiedenen jüdischen Organisationen hatten daran gedacht, dass Menschen kommen würden, die zwar Juden waren, die aber aufgrund ihrer seitherigen Lebensumstände von ihrer eigenen Religion und deren Traditionen erkennbar kaum etwas wussten.
Dies nämlich war der Preis, der zu zahlen war, wenn Zuwanderer kamen, die in die religionsfeindliche Atmosphäre kommunistischer Wirklichkeit hineingeboren waren und ihre Sozialisation in einem Regime erfahren hatten, dass allen Glaubensrichtungen gegenüber mehr als reserviert war. Denn Religion und deren Ausübung ist den meisten Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion untersagt und ausgetrieben worden.
Nun jedoch kamen sie in einen demokratischen Staat mit einem Ausmaß an persönlichen Freiheiten, die für sie alle bis dahin nicht vorstellbar gewesen waren. Und sie mussten erst lernen, mit diesen Freiheiten ihren neuen Lebensabschnitt zu gestalten.
Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, der gelegentlich zu überschwänglichen und blumigen Formulierungen neigt, spricht in diesem Zusammenhang gern von einer Erfolgs-Story.
Doch ist es das wirklich? Für die Mehrheit der Zuwanderer wohl schon. Doch gleichzeitig haben viele von Ihnen erfahren müssen, dass ihnen trotz ihrer meist hohen beruflichen Qualifikationen, ihres weitreichenden Akademisierungsgrades und ihrer unbedingten Bereitschaft, ihr Können und ihre Fähigkeiten in ihrer neuen Heimat zum Einsatz zu bringen, die meisten Türen verschlossen blieben.
Dass der Weg in den deutschen Arbeitsmarkt auch für hochqualifizierte Akademiker, Künstler, Wissenschaftler, Ingenieure, Ärzte und Informatiker von zahllosen Vorschriften, Verordnungen und Gesetzen gesäumt ist und ein ganzes Heer von eifrigen Bürokraten darüber wacht, diese auch rigoros zu befolgen, was schließlich dazu führte, dass der ungehindert Zugang zum Arbeitsmarkt für die meisten der qualifizierten und arbeitswilligen jüdischen Zuwanderer nur ein Wunschtraum blieb.
So haben schließlich manche vor den Erfordernissen des Lebens in der neuen Umgebung kapituliert und sich in ihre eigene, vertraute Welt zurückgezogen, in der kaum Kontakte zur deutschsprachigen Gesellschaft gepflegt wurden und das Satellitenfernsehen täglich den Schein eines Lebens in der alten Heimat ins Wohnzimmer trug.
Es gab nicht wenige, die damit ihre Probleme hatten, so sehr wie mit der Anpassung an ein ganz und gar anderes politisches System, an einen anderen Kulturkreis und mit dem Erlernen der deutschen Sprache. Und selbst heute, immerhin gut 25 Jahre danach, gibt es in der Jüdischen Gemeinschaft noch immer Mitglieder, ältere Menschen zumeist, die außer ein paar Brocken Deutsch nicht viel an sprachlicher Kenntnis aufweisen.
Gleichzeitig haben viele junge Zuwanderer von einst, die damals noch Kinder waren, Schule und Studium abgeschlossen, sich im Berufsleben zurechtgefunden und Familien gegründet. Sie sind, wie man heute zu sagen pflegt, angekommen. Sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und leben den Traum ihrer Eltern.
Ist es aber nun auch eine Erfolgs-Story für die Jüdischen Gemeinden, deren Bestehen durch die Zuwanderung ja erst gestärkt und abgesichert werden sollte?
Ich meine: Ja, aber. Nach den offiziellen Zahlen der staatlichen Behörden sind bis zum Ende der Zuwanderung vor ein paar Jahren, die vom Bundestag und dem Bundesinnenminister verfügt worden war, mehr als 200.000 Menschen eingewandert. Weniger als die Hälfte von ihnen sind als Mitglieder Jüdischer Gemeinden eingetragen und registriert. Was zwar immer noch eine existentielle Vitalspritze bedeutet, aber deutlich weniger ist als erwartet.
Warum das so ist? Zum einen wegen des Umstands, dass zahlreiche Zuwanderer mit einem nicht-jüdischen Partner verheiratet sind. Die sind zwar als Gäste einer Jüdischen Gemeinde stets willkommen und nehmen häufig auch wie selbstverständlich am Gemeindeleben teil, sie können allerdings im religiösen Sinne nicht als Juden gezählt werden. In der deutschen Einwanderungs-Statistik aber werden sie als jüdische Zuwanderer aufgelistet. So ergibt sich ein deutlich falsches Bild. Wenn die Politiker und ihre Behörden-Mitarbeiter die notwendige rechnerische Differenzierung zum Maßstab erhoben hätten, dann hätte die Zuwanderung im Jahr 2005 genau genommen nicht gestoppt bzw. auf ein Rinnsal reduziert werden dürfen. Weil das deutsche Boot eben doch noch nicht so voll war, wie immer behauptet.
Ein anderer Grund für eine gewisse Schieflage ist die Erfahrung, dass manche Zuwanderer sich nach ihrer Ankunft gar nicht erst bei einer Jüdischen Gemeinde angemeldet haben oder nach der Zeit erster Eingewöhnung wieder ausgetreten sind, so wie das bei katholischen und evangelischen Kirchengemeinden längst zu einer durchaus problematischen Erfahrung geworden ist. Nur hatten Jüdische Gemeinden mit Austritten eigentlich nie ein Problem. Dazu war die Verflechtung zwischen Mensch und Institution einfach zu eng.
Die neuen Erfahrungen in dieser Beziehung waren erst durch die Zuwanderer zu machen, deren Bezug zu ihrer Herkunft, zu Religion und Tradition häufig kaum vorhanden war. Dieser Umstand ist niemandem vorzuwerfen, außer dem System und dem Regime, unter dem die Bürger der Sowjetunion aufwachsen mussten.
Religion galt als verpönt, Religionsunterricht fand natürlich gar nicht erst statt und wer dabei ertappt wurde, dass er mal in die Synagoge ging, musste ziemlich sicher mit Schwierigkeiten bei der Arbeit oder im Lebensumfeld rechnen.
Weil die jüdischen Emigranten es in der Folge ihrer Sozialisierung gewohnt waren, dass kein Schritt ohne Erlaubnis von Staat oder Partei getan werden konnte, erschien es ihnen als Selbstverständlichkeit, dass Jüdische Gemeinden staatliche Einrichtungen sein oder zumindest staatlich sanktioniert sein mussten. Also vermuteten sie, es sei ihre von den Behörden auferlegte Pflicht, sich nach ihrer Ankunft in Deutschland sofort bei einer Jüdischen Gemeinde zu melden und um Einweisung in das neue Lebensumfeld zu bitten.
Als ihnen jedoch bewusst wurde, was Religionsfreiheit bedeutet und dass hierzulande niemand in Kirche oder Synagoge gezwungen wird, entwickelten eine ganze Reihe von ihnen eine neue persönliche Freiheit – und trat aus der Gemeinde wieder aus. Der Einwand, sie hätten ihre Erlaubnis zur Einwanderung schließlich nur ihrer Religion wegen erhalten und trügen deshalb auch eine gewisse Verantwortung wurde zur Kenntnis genommen. Mehr aber auch nicht.
Der Vorteil dieser Entwicklung war die Tatsache, dass die Verbliebenen so etwas waren wie ein harter Kern. Sie begannen nun tatsächlich, sich aktiv am Gemeindeleben zu beteiligen, sie kamen in die Synagoge, nahmen am G“ttesdienst teil, schickten ihre Kinder in den Religionsunterricht und wirken also mit an einer Verfestigung des Fundaments, das ohne sie spürbar brüchig geworden wäre.
Die Jüdische Gemeinschaft lebt also inzwischen nicht mehr nur allein mit den Zuwanderern von einst, sondern sie lebt durch die Zuwanderer von einst.
Zugegeben: Reibungslos ist dieser Prozess nicht von statten gegangen. Und er ist auch noch ein gutes Stück von seiner Vollendung entfernt.
Zu rudimentär waren die Kenntnisse der eigenen jüdischen Traditionen, zu unterschiedlich das kulturelle Verständnis, zu weit entfernt die Erfahrungswelten von Ost und West.
So wird jeder, der in den letzten beiden Jahrzenten einmal an einer Mitgliederversammlung in einer Jüdischen Gemeinde teilgenommen hat, bestätigen können, dass sie ungleich schwerer durchzuführen ist, als das ohnehin schon immer der Fall war:
Denn das Juden gerne streiten ist bekannt und hat eine uralte Tradition. Das Ringen der Rabbinen um die richtige Auslegung von Gesetzen, die unterschiedlichen Techniken zur Erfassung und Interpretation von Wortsinn und Zweck religiöser Vorschriften, die intensiven Debatten auf der Suche nach einer überirdischen Wahrheit, die auf irdische Verhältnisse heruntergebrochen und in zwischenmenschlichen Beziehungen gelebt werden muss.
All das begleitete das Judentum schon seit Jahrtausenden.
Neu war allerdings der unbedingte Wunsch und Drang von Menschen, denen das Rederecht in ihrer alten Heimat gar nicht oder nur eingeschränkt gewährt worden war, ihre neuen – durch demokratische Grundsätze garantierten Möglichkeiten – nun auch kräftig auszukosten.
Wenn diese Mitglieder in ohnehin schon anstrengenden Gemeindeversammlungen nun ansetzten, ihrem Recht auf freie Rede über Gebühr zu frönen und jede Bitte des Versammlungsleiters auf Rückkehr zur Tagesordnung als hinterhältige Attacke gegen ihre neu erworbenen, demokratisch verbrieften Rederechte empört zurück zu weisen, dann wussten wir plötzlich, wie gut wir es doch noch hatten, als einfach nur leidenschaftlich gestritten wurde.
Doch unabhängig davon offenbarten sich nicht unerhebliche Differenzen, die aus unterschiedlicher Sozialisation und verschiedenen historischen Erfahrungen herrührten.
Der 08. Mai etwa, der Tag des Endes des 2. Weltkriegs also, der hier als maßgebliches Datum für die Kapitulation Deutschlands begangen wird, hatte in der ehemaligen Sowjetunion keine Bedeutung. Stattdessen wurde der 09. Mai als Tag des Sieges begangen, was mit unterschiedlichen Interpretationen über die Gültigkeit der verschiedenen Kapitulationserklärungen des Deutschen Reiches zu tun hat. Und dieser Tag, also der 09. Mai, wird in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion auch heute noch mit Paraden und großem Pomp gefeiert.
Der Versuch allerdings, diese „Tradition“ nun auch in das jüdische Gemeindeleben zu implementieren, führte wiederum zu beträchtlichen Spannungen, da hierzulande zum einen nun mal der 08. Mai als Tag des Kriegsendes etabliert ist und zum anderen in Jüdischen Gemeinden üblicherweise jüdische Feiertage gefeiert werden und keine Nationalfeiertage oder ähnliches. Eine Ausnahme gilt selbstverständlich für Jom Haazmauth, also den Geburtstag Israels.
Doch wie dem auch sei. All das sind Begleiterscheinungen, die beim Zusammentreffen unterschiedlicher Sozialisationen, Kulturen und nationaler Identitäten nun einmal entstehen. Gleichzeitig hat die Jüdische Gemeinschaft einen großen Erfahrungshorizont, wenn es darum geht, diese Menschen schließlich zu verbinden, zu vereinigen und sie zusammenzuführen. Sie tut das in dem Wissen, das alle Juden dem jüdischen Volk angehören und damit eine gemeinsame Basis, eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Erbe haben. Eine Basis, die nationale Grenzen überschreitet und Jahrtausende umspannt.
In diesem Wissen hat die Jüdische Gemeinschaft in Deutschland eine Leistung vollbracht, von der sie selbst nicht geglaubt hatte, sie bewältigen zu können: eine in weiten Teilen funktionierende Integration von Menschen aus einem anderen Kulturkreis, einer anderen Sprache, einer anderen Erziehung, deren alleiniger gemeinsamer Nenner die gemeinsame Religion war und ist. Und das alles aus einer fragilen, personell unterbesetzten und räumlich oft instabilen Position heraus. Getragen zunächst von überwiegend ehrenamtlichen und engagierten Menschen, die die Herkulesaufgabe der Integration in die jüdische Gemeinschaft und gleichzeitig in die deutsche Gesellschaft begleitet haben.
Und obwohl das heutige jüdische Leben noch meilenweit von demjenigen entfernt ist, dass vor Deutschlands dunkelsten Jahren von 1933 – 1945 und dem Abgleiten einer für zivilisiert gehaltenen Nation in die Barbarei bestand, ist wieder eine jüdische Gemeinde aufgebaut worden, die an die jahrtausendealten Traditionen anknüpft und jüdischem Leben, jüdischer Ethik und jüdischem Lebensgefühl den Weg ins 21. Jahrhundert geebnet hat.
Sie ist zur Heimat für ein neu erwachtes deutsches Judentum geworden. Dynamisch, pluralistisch und kosmopolitisch. Die verschiedenen Strömungen des Judentums, ob orthodox, konservativ, liberal oder reformistisch, finden ihren Platz, mal in trauter Eintracht, mal in heiligem Zwist. Mal unter einem gemeinsamen Dach, der sog. Einheitsgemeinde. Mal in unterschiedlichen Gemeinden und Synagogen.
Rabbiner und Rabbinerinnen verschiedener Richtungen werden wieder in Deutschland ausgebildet. Es gibt eine jüdische Hochschule, Rabbinerseminare und Ausbildungsstätten für Kantoren und Vorbeter. Es werden jüdische Religionslehrer und Sozialarbeiter herangezogen und jüdische Schulen und Kindergärten sind zumindest in den Großstädten keine Seltenheit mehr.
So ist die jüdische Gemeinschaft des Jahres 2014 zu einem Zuhause für Juden verschiedener Nationen und unterschiedlicher religiöser Prägung geworden. Zu einem Ort des gemeinsamen Gebets und zu einem Ort des Lernens. Einem Ort an dem Feiern, Feste und Freude ebenso ihren Platz und ihre Zeit haben, wie Besinnung und Trauer. Einem Ort an dem die Kultur ebenso gepflegt wird wie die Begegnung. An dem Gemeinschaft, Tradition und Geschichte verschmelzen.
Ob am Ende tatsächlich ein Happy End daraus wird, die Erfolgs-Story also tatsächlich zu Ende geschrieben wird, dass muss sich noch zeigen.
Wir Juden werden jedenfalls nicht müde, daran zu glauben, darauf zu hoffen und dafür zu beten. Denn wenn es etwas gibt, was uns Juden durch die Jahrtausende hindurch begleitet hat, dann ist es die Hoffnung auf bessere Zeiten.
Und so G“tt will, wird ihr Förderverein in ferner Zukunft die Geschichte der Wiedergeburt des deutschen Judentums im 21. Jahrhundert erforschen.
Und diese Geschichte wird dann hoffentlich eine sein, die ohne Katastrophen, Grausamkeiten und Vernichtungsversuche auskommt, sondern stattdessen von Gemeinschaft, Harmonie und Friede erzählt.
Ganz und gar unvorstellbar?
Manchmal lohnt es, sich das Unvorstellbare vorzustellen!
Ich wünsche dem Förderverein für Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau, seinem 1. Vorsitzenden, Herrn Ullrich, seinem Vorstand und allen Mitgliedern zum 25-jährigen Bestehen alles erdenklich Gute! Mazal tov. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
————————————–
Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen