Geschichte – Mit dem Schicksal jüdischer Bürger Walldorfs befasst sich ein Rundgang durch den nördlichen Stadtteil
Lange Zeit schien die historische Lage klar: In Mörfelden gab es bis zur Nazizeit eine jüdische Gemeinde, die gemessen an der Größe des Dorfes recht zahlreich war. In Walldorf dagegen gab es nur die drei unverheirateten Geschwister Max, Ferdinande und Sara Reiß, die in einem alten Fachwerkhaus in der Langstraße wohnten.
Doch dann begann Hans-Jürgen Vorndran mit den Recherchen zu den vertriebenen und deportierten Juden aus Mörfelden und Walldorf. Und im Lauf einiger Jahre, zahlreicher öffentlicher Veranstaltungen und ungezählter persönlicher Gespräche stellte sich heraus: Es gab in Walldorf viel mehr Juden als bis lang angenommen wurde.
Das Haus der Geschwister Reiß war am Samstagnachmittag die letzte Station auf dem Rundgang durch das alte Walldorf, zu dem Hans-Jürgen Vorndran, der als Vorstandsmitglied des Fördervereins Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau die Verlegung von Stolpersteinen in Mörfelden-Walldorf organisiert hat, zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft Walldorfer Geschichte (AWG), den Waldenserfreunden und der evangelischen Gemeinde eingeladen hatte. Die mehr als 40 Teilnehmer waren zwei Stunden unterwegs, bevor sie am verfallenden alten Waldenserhaus angekommen waren.
Es gab viel zu berichten. Die abenteuerliche Geschichte von Otto Ortweiler und seiner Familie, die während des gesamten Zweiten Weltkriegs getrennt waren, weil der getaufte Jude Ortweiler untergetaucht war. Oder das Schicksal der alten Reiß-Geschwister Max und Sara, die bei der Deportation 1942 so gebrechlich waren, dass sie auf einem Pferdefuhrwerk nach Darmstadt gebracht wurden.
„Niemand wollte sie fahren, das wäre eine zu große Schande gewesen“, berichtete Erwin Pons von der AWG, der Vorndrans Berichte von der ersten Station am Alten Friedhof an mit allgemeinen Schilderungen vom Leben in Walldorf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergänzte. Der Bauer, der die beiden ihren Mördern hätte zuführen sollen, habe sein Pferd so fest vor das Bein getreten, dass es keinen Fuhrwagen mehr habe ziehen können, berichtete Pons.
Im Mittelpunkt des Interesses stand aber Siegfried Fay. Er lebte mit seiner christlichen Ehefrau zunächst in der Farmstraße und dann im Bäckerweg zur Miete. Beide Häuser waren Stationen des Rundgangs. Zu dem Haus in der Farmstraße konnte Gudrun Hoyer einiges beitragen. Ihre Großeltern waren die Vermieter der Fays. „Ich selbst habe sie ja nicht mehr erlebt“, sagte die 1940 geborene Hoyer während des Rundgangs. Ihre Mutter habe ihr aber erzählt, dass das kinderlose Ehepaar für sie wie Onkel und Tante gewesen sei. Nach deren Umzug in den Bäckerweg habe der Kontakt noch lange gehalten. Von Gudrun Hoyer bekam Vorndran auch ein Foto des Ehepaars Fay. Der Stolperstein für Siegfried Fay wird im Oktober allerdings vor seinem letzten frei gewählten Wohnort im Bäckerweg 28 verlegt. Als die Gruppe dort Station machte, kam es zu einem interessanten Disput. Der neunzigjährige Bewohner des Hauses, Ernst Kraft, stieß zur Gruppe. Er sei gegen eine Verlegung, sagte er ruhig aber bestimmt. „Ich weiß, was damals passiert ist, ich muss nicht daran erinnert werden“, wandte er sich an Vorndran und Bürgermeister Heinz-Peter Becker. Außerdem befürchte er, seinen Söhnen ein Haus zu hinterlassen, das durch den Stolperstein weniger wert sein könnte.
Kraft erzählte der Gruppe von seinen Erinnerungen an Fays. Die seien ein sehr nettes Ehepaar gewesen, gelegentlich habe er Besorgungen für sie erledigt. Seine Familie habe große Schwierigkeiten wegen der Mieter gehabt. „Mein Vater musste alle 14 Tage zum Rapport. Immer wieder haben sie ihn gefragt: ,Wohnt der Jude noch da?!‘“
Nachdem Ernst Fay ausgezogen war, habe die Partei seinen Eltern einen sogenannten Blutordensträger, einen Alten Kämpfer der Nazis in die Wohnung gesetzt. „Der hat gelogen und alles daran gesetzt, uns aus dem Haus und ins KZ zu kriegen.“ Heinz-Peter Becker bot Kraft an, mit ihm und seinen Söhnen über die Verlegung zu sprechen, ließ aber gar keinen Zweifel aufkommen: „Wir werden den Stolperstein verlegen.“