Stoff wird zum historischen Objekt
Geschichte: Hans-Jürgen Vorndran führt rund 60 Teilnehmer zu den Stolpersteinen in der Mörfelder Altstadt
60 Menschen stehen in einem Vorhof in der Mörfelder Altstadt und betrachten eine Tischdecke. Das klingt nicht spannend. Und auch für die Teilnehmer des historischen Rundgangs auf den Spuren der Mörfelder Juden ist dieser Anblick zunächst nicht spannend. Sie sehen ein bunt besticktes, etwas altmodisches Tuch. Dann beginnt Dietmar Treber zu erzählen. Aus dem Stück Stoff wird mit einem Mal ein historisches Objekt aus der Nazizeit, und den Spaziergängern, die sich im schattigen Hof der Tierarztpraxis drängen, läuft es kalt den Rücken herunter.
Der schattige Hof in der Zwerggasse 3 war die dritte Station des Rundgangs, den Hans-Jürgen Vorndran für den Förderverein Jüdische Geschichte mit der katholischen Erwachsenenbildung aus Walldorf und der Stadt organisiert hatte. Der Rundgang begann am Gedenkstein für die ehemalige Synagoge mit neuen Details aus der Geschichte. Rudi Hechler erzählte von der Mörfelder Synagoge: Dass sie 1829 eingeweiht worden sei, dass die kleine und arme Gemeinde vorher 13 Jahre gesammelt hatte, dass es eine Mikwe, ein rituelles Bad, gab und dass die alten Mörfelder „Juddeschul“ sagten, vermutlich deshalb, weil dort tatsächlich religiöser Unterricht erteilt wurde.
„Als ich 1971 für einen Artikel über die Mörfelder Juden recherchiert habe, fand ich in unserem Stadtarchiv überhaupt nichts“, erinnerte sich der Blickpunkt-Herausgeber. Als 1983 aber die DKP im Parlament den Gedenkstein beantragt habe, sei dies einstimmig befürwortet worden. Rudis älterer Bruder Heinz berichtete später in der Hintergasse 18 von seiner Schulkameradin Ilse Mainzer. Eine Erinnerung an den Tag der Einschulung machte die Ausgrenzung deutlich: Er, Ilse und die beiden Mütter hätten alleine auf dem Schulhof auf die Anderen gewartet. Die seien später gekommen, die Väter teils in SA-Uniformen. Der Grund dürfte gewesen sein, dass die Freidenker-Familie Hechler und die jüdische Familie Mainzer beim Gottesdienst zur Einschulung nicht erwünscht gewesen seien, ergänzte Hans-Jürgen Vorndran.
Vorndran führte seine Zuhörer zum Ende des Rundgangs in die evangelische Kirche, wo auf Gedenktafeln für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Mörfelder auch die Namen von zwei Juden verzeichnet sind. Vorndran wollte damit seinen roten Faden zu Ende spinnen. Er hatte während des Rundgangs immer wieder an Beispielen darauf aufmerksam gemacht, wie gut die Familien bis in die dreißiger Jahre integriert gewesen seien. Die beiden Gefallenen waren der Mann von Amalie Rosenthal, die sich 1936 aus Verzweiflung in der Jauchegrube ertränkte, sowie der ältere Bruder der drei Reiß-Mädchen. Die Schwestern waren eng befreundet gewesen mit Dietmar Trebers Großmutter Mina, geborene Scherer.
Die eingangs erwähnte Tischdecke hatten sie selbst bestickt und ihrer Freundin geschenkt, kurz vor der Deportation. „Ob das aus einem besonderen Anlass war oder in Vorahnung als Abschiedsgeschenk, wissen wir nicht“, so Treber. Rosa, Bertha und Minna Reiß aus der Zwerggasse 3 wurden 1942 aus Mörfelden ins Ghetto Piaski deportiert und vermutlich später in einem Vernichtungslager ermordet.