Auf den Spuren des jüdischen Berlins
Zweite Berlinreise des FV Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau
vom 27. bis 30. September 2007 – Persönliche Eindrücke eines Teilnehmers.
Unsere Reisegruppe betrug durch die kurzfristige Absage meiner Frau Christine 18 Personen. Die Reiseleitung hatte der Vorsitzende des FV Pfr. Walter Ullrichübernommen. Mit Dagmar Fuchs, Folkmar Schirmer, Ulrike Süß und Hans-Jürgen Vorndran war der Vorstand gut vertreten. Die weiteren Teilnehmer waren Ehepaare aus Stockstadt und Riedstadt sowie dem familiären Umfeld der teilnehmenden Vorstandsmitglieder. Aber auch Frau Renate Knigge-Tesche vom Gedenkstättenreferat der Hess. Staatskanzlei war der Einladung gefolgt.
Im Rahmen eines Vorbereitungstreffens in der ehemaligen Synagoge in Erfelden am 01. Juli 2007 wurde das Programm den Reiseteilnehmern vorgestellt und erörtert. Inhaltlich wurde es nach den Anregungen des Vorstandes von unserem Vorstandsmitglied Helmut Lange (Alt-Berliner) mit dem „Berlin-Reisedienst“ entwickelt, dem auch die Organisation vor Ort oblag. Neu in das Programm aufgenommen wurde auf Wunsch einiger Teilnehmer der Besuch der Neuen Nationalgalerie am Sonntagvormittag (30.09.), um die einmalige Ausstellung „Französischer Meisterwerke des 19. Jahrhunderts aus dem Metropolitan Museum of Art, New York“ zu sehen. Walter Ullrich gelang es nach Internetrecherchen die gewünschten VIP-Karten zu besorgen!
Donnerstag, 29.09.
Die Fahrt mit dem ICE 976 nach Berlin war problemlos. Nach etwas mehr als vier Stunden kamen wir auf dem Hauptbahnhof – Lehrter Bahnhof gegen 13:30 Uhr an. Die Zeit war durch intensive Gespräche, Lesen oder Ausruhen im Fluge vergangen. Da für die Gruppe bereits Tageskarten der BVG besorgt waren, konnten wir uns gleich auf den Weg ins Hotel „motel one“ machen. Also rein in die S-Bahn Richtung Osten und dann ab Jannowitzbrücke in die U-Bahn Richtung Süden (Hermannstraße) und an der zweiten Station „Moritzplatz“ wieder raus und bei Ansteuerung des richtigen Ausgangs war man dann nach einigen Schritten in der Prinzenstraße 40 angelangt. Das Verkehrssystem ist in seiner Dichte einfach toll! Allerdings sollte man mobil, d.h. nicht gehbehindert sein. Denn es sind viele Treppen zu nehmen und Rolltreppen sind eher die Ausnahme.
Das Hotel wurde mit seinen 280 Zimmern (mit sechsstelligem Zugangscode) insbesondere von jüngeren Menschen genutzt, so dass es in der ersten Nacht recht laut war. Die Ausstattung entsprach den Anforderungen einer Städtereise. Das Foyer wurde multifunktional genutzt, was beim Frühstück zu Engpässen und Gedränge führte. Ansonsten war die Atmosphäre nüchtern bis hin zu den Sitzgelegenheiten, die nicht sonderlich bequem waren. Eine Ausnahme machte das Wandgemälde mit einem Trabbi, der die Mauer durchbricht. Die Getränkepreise waren moderat und so fand sich die eine oder andere Gesprächsgruppe zum Abschluß des Tages noch auf einen Drink ein.
Vor dem Hotel, wo sich jetzt die Raucher aufhalten, fiel mir sofort ein Stolperstein für Charlotte Friedenthal, Jg. 1910, deportiert 1943, ermordet in Auschwitz, auf. Ich hatte aber den Eindruck, dass dieses Zeichen der Erinnerung nicht von allen Hotelbesuchern wahr genommen wird. Merian sagte schon „Man sieht nur das, was man kennt“.
Nach einem kurzen Aufenthalt im Hotel machten wir uns auf den Weg zum Reichstag und waren froh, dass wir uns als für 16:00 Uhr angemeldete Gruppe nicht in die lange Reihe der Wartenden eingliedern mussten. So wurden wir als Gruppe Reichenbach (MdB aus dem Kreis GG) gleich dem gründlichen Sicherheitscheck zugeführt und konnten dann im Plenarsaal mit vielen anderen den Ausführungen eines Bediensteten lauschen, der ein ganz besonderes Augenmerk auf Schülergruppen hatte, insbesondere wenn die Aufmerksamkeit hinsichtlich seines Vortrags nachließ. So erfuhren wir einiges über die Geschichte und Baulichkeit des Hauses, das Gesetzgebungsverfahren (Regierung, Bundestag, Bundesrat) und die Arbeit unserer Abgeordneten. Einzelheiten sind in dem Heft „Einblicke. Ein Rundgang durchs Regierungsviertel.“ nachzulesen. Ein Höhepunkt war der Gang in die Reichstagskuppel. Trotz des trüben Wetters genoss ich den Rundumblick und versuchte mich an Hand des Panorama-Flyers zu orientieren.
Danach war der Abend zur freien Verfügung. Walter Ullrich wandte sich den „Skyten“ zu. Andere besuchten Freunde und Verwandte. Mit mir bildete sich eine Gruppe, die aus dem Ehepaar Waltraud und Hermann Dammel, Ulrike Süß und Renate Knigge-Tesche bestand. Wir gingen zunächst am Brandenburger Tor vorbei Richtung Ebertstraße zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas (sog. Holocaust-Mahnmal, Cora-Berliner-Str. 1, www.stiftung-denkmal.de) und machten uns mit der Dimension (19 073 qm) des Stelenfeldes mit seinen zum Teil über vier Meter hohen Stelen – insgesamt 2711 – vertraut. Für den Besuch des Museums war die Zeit leider schon zu fortgeschritten. Er sollte das nächste mal nachgeholt werden.
Inzwischen hatte es richtig zu regnen begonnen. Schirme auf und zur U-Bahn Richtung Nikolai-Viertel .bis „Märkisches Museum“ und weiter zu Fuß durch einen Park entlang einem Kanal über die Mühlendammbrücke. Dann kannte ich mich wieder aus. Im Kartoffelhaus machten wir es uns gemütlich. Das Ambiente bestand aus einem Sortiment unterschiedlicher Stühle und Bänken, deren Rückenlehnen aus ausgedienten Bettgestellen bestanden. Das Essen war gut und das Bier zischte. Zurück ging es an der Nikolaikirche und dem Berliner Rathaus vorbei zum Alexanderplatz. Der Rest war Routine.
Freitag, 28.09.
Um 09:30 Uhr holte uns Herr Steinhausen ab, der den „Berlin Reisedienst“ betreibt.. Mit der U- und S-Bahn ging es zum „Hackeschen Markt“. Ziel ist eine zweistündige „Spurensuche im Scheunenviertel – jüdisches Leben rund um die Oranienburger Straße gestern und heute“. Wer diesen Spaziergang nachvollziehen möchte, findet entsprechende Anregungen in der Broschüre „Jüdische Stätten in Berlin“, 4.Aufl.. 2006, Jaron Verlag GmbH, Berlin.
Wir begannen unseren Rundgang nicht in der Rosenstraße, wo die erste Synagoge der 1671 gegründeten Jüdischen Gemeinde stand. Im Februar 1943 führte dort der Protest einiger Hundert Frauen (so genannte Fabrikaktion) zur Freilassung der Juden, insbesondere aus so genannten Mischehen, die im ehemaligen Wohlfahrtsamt der Jüdischen Gemeinde Zwangsarbeit leisten mussten und nach Auschwitz deportiert werden sollten. Diese Aktion zivilen Ungehorsams war in ihrer Dimension einzigartig in der NS-Zeit in Deutschland.
Herr Steinhausen führte uns gleich in die Rosenthaler Straße zur Besen- und Bürstenfabrik von Otto Weidt. Er beschäftigte jüdische Arbeiter/innen, die meist blind oder taubstumm waren. Da er für die Wehrmacht arbeitete, war sein Betrieb als kriegswichtig eingestuft. Im Herbst 1942 holte er einige Juden, die von der Gestapo abgeholt worden waren aus dem Sammellager in der Großen Hamburger Straße wieder zurück und versteckte sie. Die meisten wurden denunziert und ins KZ deportiert; 27 Überlebende verdanken ihm ihr Leben. – In Erinnerung wird mir auch der kunstvoll gedrehte Schnurrbart der Aufsichtsperson bleiben.
Die Hackeschen Höfe wurden aufwendig saniert. Hier befindet sich das Hackesche Hoftheater mit abendlichen Konzerten jüdischer Lieder und Klezmer. Aber auch Galerien, Modegeschäfte, Bistros – eine Touristenattraktion. Eine interessante Architektur. Wir erfahren viel über die Geschichte der Juden in Berlin, über gewährte (1806 Napoleon) und wieder entzogene Freiheiten (1812 Restauration), dem Rosenthaler Tor, dem einzigen Zu- und Ausgang für die Juden im damaligen Berlin. Auch über den staatsoffiziellen Antifaschismus der DDR, der die Beziehungen zu den Juden nach dem II.Weltkrieg prägte.
In der Sophienstraße fällt eine teilweise erhaltene Backsteinfassade mit zwei runden Torbögen auf. Wir lesen „Berliner Handwerksverein“. Darunter sehen wir in einem Kreis zwei ineinander verschränkte Hände. Ein Symbol, das von der SED seit der Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD im April 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone, später DDR verwandt wurde. Bekannt ist auch das entsprechende Plakat „In EINS nun die Hände“ mit Otto Grotewohl (SPD) und Wilhelm Pieck (DKP). Zehntausende Sozialdemokraten wurden in diesem Zusammenhang verfolgt. In den 20er Jahren wurden die Räume von der KPD genutzt, davor existierte ein jüdisches Theater.
In der Großen Hamburger Straße finden wir viele Spuren jüdischen Lebens. Hier findet sich der älteste Jüdische Friedhof, auf dem bis zu seiner Schließung (1671 – 1827) mehr als 12.000 Gräber angelegt wurden. 1943 wird der Friedhof von der Gestapo zerstört. Jetzt ist der Friedhof eine denkmalgeschützte Parkanlage. Leider wegen Arbeiten nicht zugänglich, so dass wir den Grabstein von Moses Mendelssohn (1729 – 1786, Philosoph, Aufklärer) nicht sehen können. Die Skulpturengruppe von Willi Lammert – die 1957 geschaffene Modellfassung einer nicht realisierten Arbeit für das Frauen-KZ-Ravensbrück – konnte ich durch den Bauzaun fotografieren. In der DDR-Zeit wurde sie den Opfern des Faschismus gewidmet, ohne einen Bezug zum Jüdischen Altersheim und den von hier aus deportierten Juden herzustellen! Das 1942 von der Gestapo geräumte Altersheim diente als Sammellager.
Die 1778 gegründete Jüdische Freischule befindet sich seit 1863 hier. Am 30. Juni 1942 wurde sie wie andere jüdische Bildungseinrichtungen zwangsweise geschlossen. Nach der Rückübertragung an die Jüdische Gemeinde 1992 wird das Gebäude wieder als Jüdische Grundschule sowie als Realschule und Gymnasium genutzt. Bedrückend ist, dass der Gebäudekomplex heute, wie viele andere jüdischen Einrichtungen, massiv geschützt werden muss. Überwachungskameras, Zäune, Polizei.
Wie viele Künstler hat sich auch der Franzose Christian Boltanski mit dem Holocaust auseinandergesetzt und 1990 eine bewusst gelassene Baulücke genutzt, an den Seitenwänden Schilder mit den Namen und Daten der ehemaligen Bewohner anzubringen.
Wir bewundern die im maurischen Stil erhaltene Fassade der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. 1866 in Anwesenheit Otto von Bismarcks eingeweiht, wäre sie fast der Brandschatzung in der Progromnacht 1938 zum Opfer gefallen, wenn nicht der Reviervorsteher Wilhelm Krützfeld unter Hinweis auf den Denkmalschutz couragiert eingeschritten wäre. Zur Strafe wurde er versetzt.
Auch das ehemalige Hauptpostamt beeindruckt durch seine Fassadengestaltung. Mit der Rohrpost wurden die Briefe in Berlin binnen einer Stunde zugestellt! Das waren Zeiten.
Den Abschluss des Rundganges bilden die Heckmann-Höfe, die die Oranienburger Straße mit der Auguststraße verbinden. Im Café „rosenrot“ ist bei gutem Wetter im Außenbereich Gelegenheit für einen Imbiss. Ein Brunnen, etwas Grün und der Blick auf einen der „goldenen„ Türme der Neuen Synagoge laden zum Verweilen ein.
Nach kurzer Rast geht es zur U-Bahnstation „Oranienburger Tor“ Richtung Süden zum „Halleschen Tor“. Das Jüdische Museum in der Lindenstraße ist nicht schwer zu finden. Um 13:30 Uhr betreten wir gemeinsam den Seiteneingang zum Sicherheitscheck. Es ist mein zweiter Besuch in dem architektonischem Meisterwerk von Daniel Libeskind. Wir haben eine Führung zum Thema „Zwischen Assimilation und Integration. Deutsche Juden 1806 – 1933“ gebucht. Karsten Krieger promoviert über dieses Thema und ist in seinem Element. Er vermittelt uns die Architektur des Hauses mit dem Garten des Exils und dem Holocaust-Turm. Eine Vielzahl von Informationen erreicht uns, neue Sichtweisen werden eröffnet. Auf Einzelheiten kann ich deshalb gar nicht eingehen, aber ich habe den Eindruck mitgenommen, dass die Juden in Deutschland trotz vorhandenem Antisemitismus integriert waren und sich als Deutsche gefühlt haben. Wir sind aufmerksam, aber nach drei Stunden erschöpft und begeistert. Übereinstimmend stellen wir fest, das war eine der besten Wissensvermittlungen; wenn ich mir doch mehr merken könnte! Anmerkung: Die Führung war auf eineinhalb Stunden ausgelegt. Jetzt war eine Erfrischung in der Snackbar angesagt. Für mich persönlich war noch eine kleine Entdeckung im Museum wichtig. In dem Bereich „Entartete Kunst“ fand ich eine kleine Skulptur von Rudolf Belling (bekannt durch sein Werk „Dreiklang“). Ich lernte ihn und seine Familie in Istanbul Mitte der 50er Jahren kennen, wo er an der Universität unterrichtete. Durch Kemal Atatürks Einladung an deutsche und österreichische Wissenschaftler, das Bildungssystem nach westlichem Muster aufzubauen, hatte er rechtzeitig in der Türkei eine Zuflucht (Exil) gefunden.
Der Abend war wieder zur freien Verfügung. Es regnete. Die Gruppe des vorangegangenen Abends fand sich wieder zusammen. Im Bereich Hackesche Höfe suchten wir ein geeignetes Lokal. Wir fanden einen „gehobenen“ Italiener. Bei Bandnudeln, Bresse-Huhn und piemontesischen Rotwein klang der Abend gelungen aus.
Samstag, 29.09.
Um 10:30 Uhr holte uns Herr Steinhausen im Hotel ab. Diesmal in einem gediegenen Mercedes-Bus. Prima, denn es regnet. Die Fahrt ging in den Berliner Westen. Vorbei am Berliner Kammergericht, Roland Freisler wütete dort; später beherbergte es den Alliierten Kontrollrat. Bayerisches Viertel. Schöneberger Rathaus. Flächendeckende Gedenkstätte mit Schildern an den Straßenlaternen. Beispiele von Bauhaus Flachdächern, die von den Nazis in germanische Satteldächer umgewandelt wurden. Kurfürstendamm bis Halensee und weiter durch ein Villenviertel zur S-Bahnstation Grunewald.
Eine ruhige, abgelegene kleine Station. Der Bus fährt auf eine Rampe. Ein Eisenbahngleis wird von gegenüberliegenden, etwas erhöhten Bahnsteigen eingefaßt. Auf die Gedenkstätte „Gleis 17“ weist eine Gedenktafel hin. Auf den Bahnsteigen liegen 186 durchbrochene Eisenplatten an deren Ende zum Gleis hin steht auf der ersten Platte: „18.10.1941 / 1251 Juden / Berlin – Lodz“. Dies setzt sich fort. Minsk, Kowno, Riga, Lublin, Warschau, unbekannt und immer wieder Theresienstadt, aber auch Auschwitz, Ravensbrück, Bergen-Belsen und Sachsenhausen. Nach 35 Eintragungen höre ich auf zu schreiben und gehe weiter. Auf der anderen Seite wird diese Aufzählung fortgesetzt und sie endet mit dem Eintrag „ 27.03.1945 / 18 Juden / Berlin – Theresienstadt“. Über 50.000 Juden wurden von hier deportiert. Die Rolle der Reichsbahn blieb bis in die 80er Jahre wenig beachtet. Inzwischen wächst das Gleisbett jenseits der Gedenkstätte zu. Es soll von dort nie wieder ein Zug fahren…
Nachdenklich fahren wir durch den weitläufigen Grunewald. Wir machen einen Abstecher zur Halbinsel Schwanenwerder, wo in der NS-Zeit von der SS bewacht Parteiprominenz wohnte. Vorbei an dem Strandbad Wansee. Allen bekannt durch den Schlager von Conny Froboess aus den 50ern „Pack die Badehose ein …“. Bereits 1907 wurde der Badebetrieb durch den Regierungspräsidenten in Potsdam legalisiert. Die 1929 unter Stadtbaurat Martin Wagner – er konnte in die Türkei emigrieren – errichteten Bauten stehen unter Denkmalschutz. Ab 1935 hing am Eingang ein Schild „Juden ist das Baden und der Zutritt verboten“. SA-Leute hatten die Aufgabe, jüdische Besucher zu vertreiben.
Auf dem Wannsee, von seinem Boot „Libertas II“ aus, funkte das führende Mitglied der Widerstandsgruppe „Roten Kapelle“, Harro Schulze-Boysen, nach Moskau, um vor dem bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion zu warnen. Die Abwehr konnte im Juli 1942 die Funksprüche entschlüsseln. Auf die Verhaftungswelle (etwa 150 Personen waren betroffen) folgten eine Vielzahl von Todesurteilen durch das Reichskriegsgericht. Der beteiligte NS-Richter Manfred Roeder wird 1951 freigesprochen, da er in seiner Verteidigung die Spionagetätigkeit der Gruppe hervorhebt und den Widerstand leugnet. Dies war lange vorherrschende öffentliche Meinung.
In der Gemeinde Wannsee (Halbinsel) setzt uns der Bus ab. In einem Sportsboothafen, den ein Löwe von seinem Denkmal aus überschaut, gehen Teile unserer Reisgruppe in ein Fischlokal. Der Betreiber ist Türke und die Bedienung Engländerin. Herr Steinhausen begleitet uns. Bei Weißwein und Fisch berichten wir von der besonders qualifizierten Führung im Jüdischen Museum und erhalten im Gegenzug den Hinweis auf das Lokal Großbeerenkeller in der Nähe der Stresemannstraße als Abendziel. Bei dieser Gelegenheit sollte ich einmal die sehr eigenwilligen Designer-Krawatten unseres Vorsitzenden erwähnen, die er beim Essen mit einem praktischen Überzug schützt.
Fußläufig erreichen wir das Haus der Wannsee-Konferenz, eine Gedenk- und Bildungsstätte, Am Grossen Wannsee 56-58, wo um 14:00 Uhr eine Führung für uns gebucht ist. Eine stattliche Villa in einem Park direkt am See. Ein junger Mann erläutert uns kompetent den Ablauf der Konferenz, seine Teilnehmer und die historischen Entwicklungen. Hier also wurde am 20.1.1942 die „Endlösung der Judenfrage“, der Völkermord an den europäischen Juden erörtert, beschlossen und danach bürokratisch umgesetzt. In einer Vielzahl von Dokumenten und Schautafeln wird in der umfangreichen Ausstellung das Vorgehen des NS-Regimes anschaulich präsentiert und die systematische Ausgrenzung, Ausplünderung, Vertreibung und schließlich Vernichtung der Juden belegt. Ich kaufe mir den Katalog, den ich in Ruhe bei Gelegenheit durchlesen werde. Aber auch wenn ich noch mehr Fakten und Zusammenhänge kenne, ich werde es, d.h. dieses Verbrechen nicht begreifen. Die Aussage von Gunter Demnig („Stolpersteine“) am Ende der Ausstellung „Ich weiß es nicht, manchmal versuche ich nicht darüber nachzudenken, woran mein Vater teilgenommen haben kann.“ geht mir durch den Kopf. Mein Vater hat nie mit uns Kindern darüber gesprochen.
Einige Hundert Meter entfernt liegt die Max-Liebermann-Villa. Auf den Besuch habe ich mich gefreut. Hier erwartet uns um 16:30 Uhr eine nette, ältere Dame, die ihre Aufgabe ehrenamtlich wahrnimmt. Leider regnet es mal wieder. Ich brauche noch etwas Abstand und setze mich von der Gruppe ab. Zunächst gehe ich durch den Garten am Seeufer. Er ist wieder so hergerichtet, wie ich ihn von den Gemälden kenne, die ich in der Ausstellung in den Opel-Villen gesehen habe. Ich fotografiere Vertrautes. Max Liebermann hatte sich 1909 sein „Schloss am See“ bauen lassen. Von 1914 bis zu seinem Tode 1935 verbrachte er die Sommermonate hier. 1940 zwangen die Nazis seine Witwe Martha zum Verkauf des Anwesens an die Reichspost. Im Obergeschoss sind einige seiner Bilder ausgestellt. Ein Porträt seines Freundes und Nachbarn Ferdinand Sauerbruch dominiert einen Raum. Die Museumsführerin beschreibt die Vita des Künstlers – seinen großen Erfolg in Frankreich und seinen späten Ruhm in Berlin (Deutschland).
Gegen 18:00 Uhr besteigen wir den Bus der Linie 114, die Haltestelle liegt direkt vor der Villa, der uns dann zum S-Bahnhof „Wannsee“ bringt. Die Fahrt geht bis „Friedrichstraße“ und dann weiter mit der U-Bahn. Als wir aussteigen ist es dunkel. Doch unser „Bärenführer“ Walter Ullrich steuert zielsicher an der SPD-Parteizentrale vorbei die Großbeerenstraße an, wo sich in der Nähe des Hebbel-Theaters der Großbeerenkeller befindet. Hier verkehrten einst die Größen von Film und Fernsehen, wovon die an den Wänden reichlich vorhandenen signierten Autogrammkarten berichten. Auf den Tischen liegen Zeitungsberichte über die Bedeutung der Kneipe, die von etwa 1990 datieren. Diese Zeit ist an der Inhaberin offensichtlich nicht spurlos vorüber gegangen. Da nur wenige Tische besetzt waren, hatte die Bedienung Zeit, sich ihre Zigaretten am Nebentisch zu drehen. Das Essen war gut berlinerisch und das Bier schmeckte.
Sonntag, 30.09.
Die Strecke des Berlin-Marathon verläuft direkt vor unserem Hotel. Gegenüber ist eine überdachte Bushaltestelle. Hier sitzt eine Oma im Rollstuhl, gut in Decken eingepackt und jubelt mit Begeisterung, die Ratsche eifrig drehend, den vorbei fahrenden Rollis zu. Toll welche Windschattenrennen sie sich liefern.
Um 10:00 Uhr sind wir in der Neue Nationalgalerie in der Nähe des Potsdamer Platzes. Ein Kubus. Das große ebenerdige Foyer beherbergt Kasse und Garderobe und ist ansonsten bis auf die Skulptur von Auguste Rodin „Die Bürger von Calais“ leer. Im Untergeschoß ist die Ausstellung der französischen Meisterwerke aus dem New Yorker Metropolitan Museum of Art. Hundertfünfzig der schönsten Werke – Gemälde und Skulpturen – aus dem 19. Jahrhundert werden gezeigt. Alle großen Künstler sind vertreten, die ich schon in verschiedenen Ausstellungen gesehen habe, aber noch niemals in solcher Fülle. Mit dem ausführlichen Audio-Führer nehme ich mir viel Zeit und merke gar nicht, dass schon drei Stunden um sind. Ich mache noch einen Schnelldurchgang. Im Foyer fotografiere ich Rodin. Ein Bediensteter klärt mich auf, das sei wegen des Katalogverkaufs auch hier verboten. Naja.
Ich stärke mich an einem Stand mit Milchkaffee und Brezel und schaue dem Treiben im Umfeld des Marathons zu. Zurück ins Hotel und von dort zum Hauptbahnhof. Abfahrt 15:31 Uhr mit einem Intercity-Zug über Erfurt, was die Fahrtzeit einschließlich Verspätung auf über fünfeinhalb Stunden verlängerte. Die alten Waggons waren nicht klimatisiert und Getränke gab es nur auf Bahnhöfen beim Zwischenhalt. Also, wenn es irgendwie geht: ICE !
Mein Fazit: Eine gelungene Reise. Inhaltlich hervorragend, menschlich harmonisch, mit Freiräumen für private Aktivitäten und dennoch ein Gemeinschaftserlebnis.
Mein Vorschlag: Nächste Reise im Mai 2009. Ziele: Neue Synagoge, Holocaust-Mahnmal, Prenzlauer Berg mit Käthe-Kollwitz-Platz, Synagoge Rykestraße, Jüdischer Friedhof Schönhauser Allee (Stiller Gang), Spaziergänge Charlottenburg oder Kreuzberg, Dampferfahrt auf der Spree oder Havel.
Mörfelden-Walldorf im November 2007
Ankunft in Berlin
Vor dem Reichstag
Reichstagskuppel
Holocaust-Mahnmal Stelenfeld
Stärkung im Kartoffelhaus
Motel One Foyer
„… durch die Mauer“
Stolperstein vor unserem Hotel
Blindenwerkstätte Otto Weidt
Berliner Handwerksverein, Sophienstraße
Kunstwerk Boltanski
Skulptur Lambert, Große Hamburger Straße
Neue Synagoge, Oranienburger Straße
Mittagspause Heckmannshöfe
Mittagspause Heckmannshöfe
Vortrag Karsten Krieger, Garten des Exils
Gedenkstätte Gleis 17, S-Bahnstation Grunewald
Hier fährt kein Zug mehr …
Herr Steinhausen, Wannsee
Haus der Wannsee-Konferenz, 20.01.1942
Garten Max-Liebermann-Villa, Seeseite
Garten Max-Liebermann-Villa, Gärtnerhäuschen
Rückfahrt nach Berlin Mitte
Berlinerisch im Großbeerenkeller
Rodin „Die Bürger von Calais“
IC oder Regionalexpress? – Rückfahrt 5 ½ Stunden