„Ein Mensch ist ers
t vergessen, wenn sein Name vergessen ist“
Erste 15 Stolpersteine gegen das Vergessen in Mörfelden verlegt
Immerhin über 60 Menschen waren es, die sich am Dienstag, den 5. Juni am späten Vormittag in Mörfelden am Gedenkstein für die ehemalige Synagoge einfanden, um Zeugen der Verlegung der ersten 15 „Stolpersteine gegen das Vergessen“ zu werden. Die Veranstaltung war vom Förderverein Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau und speziell von dessen Vorstandsmitglied und früherem Ersten Stadtrat der Stadt Mörfelden-Walldorf, Hans-Jürgen Vorndran, über einen längeren Zeitraum hinweg vorbereitet worden. Grundlage der Aktion ist ein Mehrheitsbeschluss der Stadtverordnetenversammlung von Mörfelden-Walldorf vom 19. Juli 2005. Mit der Verlegung von Stolpersteinen des Kölner Künstlers Gunter Demnig vor auf dem Bürgersteig vor Wohnhäusern soll auch in Mörfelden-Walldorf der verjagten, terrorisierten und in den meisten Fällen ermordeten ehemaligen jüdischen Bürger von Mörfelden und Walldorf gedacht werden. Weitere 35 Stolpersteine sollen noch verlegt werden.
Schriftsteller Peter Härtling, der in Walldorf wohnt, eröffnete die kleine Gedenkfeier am Gedenkstein mit eindrucksvollen Worten. Es sei wichtig, dass man auch im öffentlichen Raum „stolpere“, um der Verfolgung, Erniedrigung und Ermordung der Juden zu gedenken. Es las ein Gedicht von Walter Mehring „Der Emigranten-Choral“ vor – nach 1933 in Paris geschrieben, wohin Mehring direkt nach der „Machtergreifung“ geflohen war. 1940 floh er vor den deutschen Truppen nach Marseille, von wo aus er 1941 in die USA emigrierte. Walter Mehrings langjährige Freundin Hertha Pauli berichtet, dass der Emigrantenchoral in Paris die „Nationalhymne“ der deutschen Emigranten gewesen sei. In bitteren Worten fordert Mehring dazu auf, die Herzen „über alle Grenzen zu werfen, neue Anker auszuwerfen“ und nicht zu viel zu trauern über das verlassene Heimatland. Mit den „Volksgenossen“ wolle man nicht heulen, sondern sich „lieber mit Hyänen duzen“. „Es ist nicht alles Gold, wo Uniformen glänzen! Solln sie verleumden – sich vor Wut besprenzen – Sie spucken Hass in einen Ozean! Lasst sie allein beim Rachesein – bis sie erbrechen, was sie euch gestohln – Das Haus, den Acker – Berg und Waterkant…“
Dann spricht Gunter Demnig in kurzen Worten – dieser Eröffnungsveranstaltung zur Verlegung der Steine angemessen – über sein Lebensprojekt: Über 12.000 Steine habe er unterdessen in Deutschland und Österreich verlegt – jetzt kämen auch die ersten in Ungarn (Budapest) dazu. Alleine in 243 Städten und Gemeinden in Deutschland gäbe es sie jetzt – allen Kritiken zum Trotz. Und die Kritiker sind wichtige Personen – auch Frau Knobloch – Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland – gehört dazu. In München – zum Beispiel – werden keine Steine verlegt; in Aschaffenburg sind beide Kirchen gegen eine Verlegung: Die Stadtpolitik wirkt hinsichtlich der Frage, ob die Steine eine angemessene Erinnerungskultur ermögliche, wie gelähmt. Gunter Demnig sagt dazu: Er habe sich seinerzeit mit der jüdischen Gemeinde in Köln verständigt, ob seine Idee akzeptabel sei – auch und gerade vor dem Hintergrund der Thora. Er wurde ermuntert. „Grabsteine können es nicht sein“, sagt er. Es sind „Schlusssteine“. Wichtig ist ihm: „Man muss sich verneigen vor einem Stein – d.h. vor einem Menschen -, wenn man lesen will, was darauf steht.“
Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 9g der Bertha-von-Suttner-Schule (BvS) – auch Klassenlehrer Manfred Seiler ist dabei – verlesen anschließend die Namen von 49 jüdischen Bürgern von Mörfelden und Walldorf (von insgesamt 57), für die der Wohnort sicher ermittelt werden konnte. – Ihnen folgt Rabbiner Gorowitz aus Frankfurt. Seine kleine Tochter auf dem Arm, singt er ein jüdisches Totengedenklied – eine außerordentlich eindrucksvolle Szene an diesem 5. Juni gegen Mittag in Mörfelden.
Nach der Kranzniederlegung am Gedenkstein für die Synagoge, die Heinz-Peter Becker – der zukünftige Bürgermeister von Mörfelden-Walldorf -, Pfarrer Walter Ulrich für den Förderverein und Edda Bassler, die Vorsteherin der Stadtverordnetenversammlung vornehmen, begeben sich die Anwesenden in die Langgasse 40. Dort werden die ersten 5 Stolpersteine direkt an der Hauswand auf dem Bürgersteig verlegt. Während Gunter Demnig die Stolpersteine – quadratische Steine, die auf der Oberfläche eine Messingplatte tragen, in die jeweils der Name und Lebensdaten der Menschen eingraviert sind – an eine von der Stadt bereits vorbereitete Stelle verlegt, liest eine Schülerin der Jahrgangsstufe 12 der BvS die Lebensgeschichten der Mitglieder der Familie Cohn vor. Fünf Steine werden hier verlegt: für Hedwig und Max Cohn (geb. 1877 und 1878) und die drei Kinder Elisabeth, Gertrude und Ludwig. Während Max und Gertrude schließlich nach England fliehen konnten, wurde Elisabeth in Auschwitz ermordet. Mutter Hedwig starb 1935, und von Sohn Ludwig weiß man, dass er 1939/40 in einem Internierungslager festgehalten wurde. – Hans-Jürgen Vorndran übergibt während der Verlegung der Steine Urkunden an die „Paten“. 95.-€ kostet ein Stein. In Mörfelden-Walldorf haben sich sehr schnell viele Menschen gefunden, die diesen Betrag aufbringen wollten, um ihren persönlichen Beitrag zum Gedenken zu leisten.
Die Verlegung der weiteren 10 Steine, die an diesem Vormittag vorgenommen werden, vollzieht sich in der gleichen Weise:
In der Zwerggasse 2 werden 3 Steine verlegt. Hier lebte die Familie Oppenheimer. Mutter Regina wurde noch die letzte jüdische Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof in Groß-Gerau zuteil. Ihrem Sohn Julius gelang die Flucht in die USA. Berthas Mann Bernhard van Bingen wurde 1940 ermordet. Sie selbst, ihre Schwiegermuter und ihre beiden Kinder Isabella Trude und Bernhard Walter wurden im Vernichtungslager Sobibor ermordet.
In der Zwerggasse 3 werden 4 Steine verlegt. Hier lebte die Familie Reiß: Mutter Zerlinde mit ihren drei unverheirateten Schwestern Rosa, Bertha und Minna. Vater David – Bäcker von Beruf – war bereits 1915 gestorben. Den vier Frauen gelang es nicht, aus Deutschland zu fliehen. Die Mutter starb 1940 und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Darmstadt beerdigt. Die drei Schwestern mussten in einer Frankfurter Großwäscherei Zwangsarbeit leisten. 1942 wurden sie zusammen mit anderen noch in Mörfelden wohnenden Juden in das polnische Ghetto Piaski deportiert und dort ermordet.
In der Hintergasse 18 lebte die Familie Sobernheim. Es werden hier 3 Steine verlegt. Die Familie Sobernheim hatte drei Kinder: Joseph Sobernheim (der Sohn) und seine Ehefrau Rosa wurden im Juni 1942 von Fulda aus, wo sie hingezogen waren, nach Majdanek deportiert und dort ermordet. Henriette Mainzer, geb. Sobernheim, wurde mit ihrer kleinen Tochter Ilse 1942 in das Ghetto Piaski deportiert und dort ermordet. Klara Salamon, geb. Sobernheim, wurde am 11.11.1941 – ihrem 38. Geburtstag – mit ihrem Mann Julius Salomon ins Ghetto Minsk deportiert und dort ermordet.
Die Schülerinnen der BvS, die die Lebensgeschichten vortragen, sind mit dem Herzen dabei – das merkt man ihnen an. Mit ganzem Herzen dabei ist auch Hans-Jürgen Vorndran, der diese Verlegung zu seiner ganz persönlichen Sache gemacht hat – und sie gegen alle Widerstände in der Stadt durchgesetzt hat. Ihm vor allem gebührt großer Dank für das Durchsetzungsvermögen und die Arbeit im Detail.
Wenn man einige Tage nach der Verlegung an den Orten vorbeigeht, merkt man die Steine kaum. Es „stolpert“ der, der bewusst seines Weges geht – und der muss sich auch herabbeugen, um zu lesen, was da steht. Sind die Steine zu unauffällig? Hätte es auch eine andere Art des Gedenkens gegeben? – Ja, natürlich. Man hätte auch Tafeln aufstellen können – aber das kann man ja immer noch tun. Man kann auch in den beiden Stadtmuseen über das Schicksal dieser Menschen berichten – und das soll man auch tun. Die Stolpersteine sind eine mögliche Form des Gedenkens. Wenn 50 Steine verlegt worden sind, ist das ein sichtbares Zeichen in der Stadt. Sie ergänzen die anderen Zeichen des Gedenkens in Mörfelden-Walldorf: die Gedenksteine am Standort der ehemaligen Synagoge in Mörfelden und am Gelände für das ehemalige KZ-Außenlager Natzweiler-Struthof in Walldorf-Nord. Wir haben in unserer Stadt über die Verlegung der Steine gestritten – und der Streit wird weitergehen. Das ist nicht schlimm. Unwohl fühlt man sich aber dann, wenn man das Gefühl nicht loswird, dass der Streit um die Steine nicht ein Streit um die Form des Gedenkens ist sondern um das Gedenken überhaupt. Eines bewirken die Steine nämlich mit Sicherheit: sie sind in das Straßenbild eingelassene Steine des Anstoßes – und das ist gut so.
Klaus Müller