Mörfelden-Walldorf (ohl). „Wir wurden in der Schule zu Kriegern erzogen.“ Mit einem einzigen Satz unterstrich der prominente Gast die Wichtigkeit von Forschung und Aufklärung zu Schule in der NS-Zeit. Der Schriftsteller Peter Härtling sprach ein Grußwort, er selbst nannte es Vorwort, für die Schülerinnen Jana Hechler und Lena Kalinowsky. Auf deren Vortrag zum Thema „Schule im 3. Reich und das Schicksal jüdischer Schüler aus Mörfelden“, den sie am Sonntag im Sitzungssaal des Walldorfer Rathauses hielten, führte Härtling mit einer Geschichte aus seiner eigenen Schulzeit hin. Bei der Einschulungsfeier für die Erstklässler habe er ein Gedicht aufgesagt, erzählte er. „Dann wach und kämpf´, der Feind steht schon bereit“, war eine Zeile, mit der, so Härtling, die Sechsjährigen auf den Heldentod vorbereitet wurden. Schule sei unter den Nazis alles andere als ein Ort zum spielerischen Lernen gewesen.
Das machte der Vortrag der beiden Abiturientinnen sehr deutlich. An der Mörfelder Horst-Wessel-Schule, die vor 1933 Feldschule hieß und heute nach Albert Schweitzer benannt ist, änderte sich bald nach der Machtübernahme einiges für die Kinder, berichtete Lena Kalinowsky. Biologie und Geschichte wurden wie in ganz Deutschland auf Kosten anderer Fächer verstärkt. Diese Fächer waren zentral für die faschistische Ideologie allgemein – Beispiel Sozialdarwinismus und Rassenlehre – und den Herrschaftsanspruch der Nazis im Speziellen. Der Sport-Unterricht ähnelte einer Wehrsportübung, Mädchen hatten weniger Sport als die Jungen, dafür wurden sie auf ihre Rolle an Heim und Herd vorbereitet. Sportlich mussten im Sinne der NS-Ideologie nur Soldaten sein und Soldaten sollten alle Schüler einmal werden. Ausgenommen die Juden. Denen schlug in der Schule, anders als im sonstigen Alltag, gleich in den ersten Tagen der Diktatur der nun staatlich geförderte Rassenhass entgegen. Viele der Mörfelder Lehrer engagierten sich in NS-Verbänden. Jana Hechler, die sich mit der Mörfelder Schule und den Erlebnissen von drei jüdischen Schülern beschäftigte, hatte viele Beispiele für die Ausgrenzung. Kurt Weishaupt zum Beispiel musste auf Geheiß seines Klassenlehrers, des Propaganda-Leiters Weinheimer, Plakate mit der Aufschrift „Juden raus!“ kleben. Ilse Mainzer wurde von ihrem Lehrer Ende der Dreißiger Jahre angeschrieen: „Ein Judenkind. Raus hier! Hier haben Juden keinen Platz! Pack deine Sachen und geh endlich raus!“ Wahrscheinlich sei sie danach nie mehr in die Schule gegangen, sagte Jana Hechler. Kurze Zeit später war es Juden ohnehin verboten, auf staatliche Schulen zu gehen. Kurt Weishaupt und seine Schwester Ruth besuchten später das Philantropin, eine jüdische Schule in Frankfurt. Dort wurden die Kinder durch Unterricht in Englisch, Neuhebräisch und Palästinakunde auf die Flucht aus Deutschland vorbereitet. Wie die Stimmung an der Schule von Jahr zu Jahr schlechter wurde, wie sich nach den ersten Deportationen unterschwellig Panik breit machte, verdeutlichte Lena Kalinowsky eindrücklich durch Zitate aus Briefen einer Lehrerin. „ (…) und dabei fällt mir das Arbeiten so schwer“, schrieb sie. „Bald ist kein Kollege mehr an unserer Volksschule. Alles ist so traurig. Die Kinder sind nicht mehr zum Arbeiten zu bringen. Man schleppt sich zu allem…“ Nach 138 Jahren, im Juli 1942, habe das Philanthropin zu bestehen aufgehört, berichtete die Abiturientin. Zu diesem Zeitpunkt waren Ruth und Kurt Strauß bereits in die USA geflohen, Ilse Mainzer aus Mörfelden verschleppt und ins KZ Piaski in Polen deportiert worden. Zeitzeugen hatten Jana Hechler berichtet, dass die vierzehnjährige Ilse und die anderen verbliebenen Mörfelder Juden am Dalles stundenlang auf den Abtransport gewartet hätten und dabei von Antisemiten mit Steinen beworfen und bespuckt worden seien. Ilse Mainzer habe furchtbar geweint.
DIE ABITURIENTINNEN Jana Hechler und Lena Kalinowsky berichteten über Schule im 3. Reich und das Schicksal jüdischer Schüler aus Mörfelden.
DAS VORWORT zum Vortrag hielt Peter Härtling, der mit Beispielen aus seiner eigenen Schulzeit verdeutlichte, wie schon kleine Kinder zu Rassisten und Mördern erzogen wurden.
HORST-WESSEL-SCHULE hieß die heutige Albert-Schweitzer-Schule während der Nazi-Zeit. Viele Lehrer waren glühende Nazis, kritische Menschen wurden entlassen.
NAZI-FEIER vor der Horst-Wessel-Schule. Die Organisation übernahmen laut Zeitzeugen die HJ-Schüler.