1. Emanzipationskonzepte Als im Zuge der Aufklärung erstmals auch die Frage der Emanzipation der Juden diskutiert wurde, gehörten etwa 9/10 der deutschen Juden als Bettler, Hausierer und Trödler zur marginalisierten Unterschicht. Ein Zehntel der jüdischen Bevölkerung gehörte der unteren Mittelschicht an und nur etwa 2% zählten als Hofbankiers und Gelehrte zur Oberschicht. Die Mehrzahl der Juden lebte zu diesem Zeitpunkt auf dem Land, und nicht, wie dies ein Jahrhundert später der Fall sein sollte, in den Städten. Im Jahr 1783 veröffentlichte der preußische Regierungsrat Christian Wilhelm Dohm seine Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“und formulierte damit – wie sich zeigen sollte – zugleich die programmatische Überschrift für die Emanzipationsdiskussion der folgenden Jahrzehnte. Dohm hatte die angebliche „Verderbtheit“ der „jüdischen Nation“ aus den Vorgaben der christlichen Gesellschaft abgeleitet und für eine langsame, an der Staatsräson orientierte Politik der „Verbesserung“ der jüdischen Minderheit plädiert. Sein Konzept wurde zur wesentlichen Argumentationsgrundlage des aufgeklärten Beamtentums und liberaler Politiker, die die Emanzipation der Juden unter dem Aspekt des Auf- und Ausbaus eines modernen Verwaltungsstaates und der Schaffung eines einheitlichen Untertanen Verbandes mit Nachdruck forderten. „Emanzipation“ kann deshalb definiert werden als ein „Katalog von Maßnahmen, die der Staat als notwendig erachtete, um bei unterpriviligierten Bevölkerungsteilen [wie den Juden] Defizite gegenüber der verordneten Norm zu beseitigen.“5 Es ging dabei zunächst um die rechtliche Emanzipation, „denn die alten Grenzen, die man überwinden wollte, waren rechtlicher Art.“ Dohms Konzept der „bürgerlichen Verbesserung“ beinhaltete zugleich die Vorstellung eines erzieherisch-pädagogischen Vorgehens. Die Sondergesetzgebung, die für die jüdische Minderheit galt, sollte nicht durch einen einmaligen legislatorischen Akt, sondern langsam und stufenweise aufgehoben werden. Dieses Konzept sowie erste Schritte zur rechtlichen Besserstellung, die in Preußen und Osterreich gegangen wurden, blieben auch in den übrigen deutschen Staaten nicht ohne Wirkung. Im partikularen Rechtssystem Deutschlands konnte es allerdings auch in der Frage der Judengesetzgebung kaum zu einem einheitlichen Vorgehen kommen. Für die Phase der ersten Emanzipation zwischen 1780 und 1815 ist das Nebeneinander der vielfältigsten Judenordnungen charakteristisch. In den einzelnen Ländern kam es zu Modifikationen der jeweiligen Judenordnungen, die in ihrem Gehalt die repressiven Verordnungen aus dem Ancien regime aber nicht aufhoben. Auch nach dem Wiener Kongress blieb die jüdische Emanzipation eine Angelegenheit der Einzelstaaten, was in der Folge zu höchst unterschiedlicher Weiterbildung der jeweiligen Judenordnungen führte. Im Vormärz wurde die Emanzipationsdiskussion vor allem in den konstitutionellen süd- und südwestdeutschen Staaten weitergeführt. Auf der Grundlage des widersprüchlich konzipierten Erziehungsmodells wurde die Frage der Emanzipation nun auch in den Parlamenten zu einem Streitpunkt, wobei die Positionen quer durch alle politischen Fraktionen umstritten waren. Wenn es sich bei der Diskussion um die Emanzipation der Juden zunächst auch um eine rechtliche Diskussion handelte, so geriet doch sehr bald auch die Frage ihrer sozialen Integration ins Blickfeld. Die Juden sollten, quasi als Vorleistung einer rechtlichen Besser- bzw. Gleichstellung, ihre „Abgesondertheit“ aufgeben und ihre einseitige sozial-ökonomische Struktur korrigieren. Man wollte demnach rechtliche Gleichstellung gewähren, allerdings nur auf der Grundlage einer strukturell vorbestimmten Integration und unter der Voraussetzung sozialer Vorleistungen. Dem Zugeständnis rechtlicher Gleichstellung war also die Forderung nach Assimilation immanent. „Assimilation“ kann deshalb definiert werden als die Bereitschaft der jüdischen Bevölkerung zur Anpassung an das den christlichen Staat und das die christliche Bevölkerung strukturierende Wertesystem. Damit ist der Grad der Anpassung zunächst noch nicht definiert.
2. Judenemanzipation im Großherzogtum Hessen Im Jahre 1809 war es Karl du Bös du Thil, der über die Situation der Juden im Großherzogtum Hessen schrieb: „Ohne Zweifel fällt jedem der Mangel an obrigkeitstaatlicher Leitung in die Augen, denn man findet meistens nur Gesetze wider, nicht für die Juden, und welche Wege, sich ehrlich zu ernähren, sind ihnen noch übrig?“ Und weiter: „Indem ich meine Überzeugung ausspreche, dass die Erhebung der Juden zu Staatsbürgern durchaus das einzige Mittel seye, sie nützlich und glücklich zu machen, so räume ich gerne ein, dass sie hierzu erst vorbereitet werden müssen, und folglich würde es in meinen Augen eine Art Missgriff seyn, sie alle auf einmal zu Staatsbürgern zu erklären.“ Auch hier stehen sich also wiederum die durchaus ernstgemeinte Absicht, die Juden in den Staatsapparat zu integrieren und die Vorstellung einer zuvor von jüdischer Seite zu erbringenden Vorleistung gegenüber. Bürgerliche Gleichstellung unter den Vorzeichen bereits vollzogener Assimilation war die Formel, in der sich zugleich das Dilemma der jüdischen Emanzipation zeigte. Denn Assimilation sollte beides sein: eine von den Juden zu erbringende Vorleistung zur rechtlichen Gleichstellung und zugleich das Ergebnis eines langfristig konzipierten Emanzipationsprozesses. Konkrete Schritte zur Verbesserung der Rechtsstellung der Juden vollzogen sich in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt bzw. dem Großherzogtum Hessen jeweils im Zusammenhang mit Verwaltungsreformen. Der Zwang dazu resultierte in Hessen vor allem durch territoriale Veränderungen: So in Folge des Reichsdeputationshauptschlusses, dem Beitritt Hessen-Darmstadts zum Rheinbund und der damit verbundenen Erhebung zum Großherzogtum sowie nach dem Wiener Kongress. Es war die Notwendigkeit, auf staatliche Integration orientierte Verwaltungsreformen durchzuführen, um die alten und neuen Landesteile miteinander zu verschmelzen, die auch auf den Rechtsstatus der jüdischen Bevölkerung Auswirkungen hatte. Die einzelnen Modifizierungen der hessischen Judenordnung, die auch Verbesserungen für die rechtliche Stellung der Juden beinhalteten, können an dieser Stelle nicht detailliert dargestellt werden. Von Bedeutung erscheinen mir in diesem Zusammenhang die folgenden Aspekte, die zugleich eine Charakterisierung der Maßnahmen erlauben: 1. Die einzelnen Verbesserungen bzw. Modifizierungen der Judenordnung zeigen genauso wie das Gutachten du Thils, dass sich der staatliche Blick auf die Juden als Bevölkerungsgruppe verändert hatte. Der Versuch, die Juden in den Staatsapparat zu integrieren, zeigt, dass sie nicht mehr als eine außerhalb des Staates stehende Gruppe verstanden wurden, sondern der staatlichen Aufsicht mit dem Ziel der Integration unterstellt wurden. Du Thil hatte den „Mangel an obrigkeitlicher Leitung“ beklagt und diese zugleich eingefordert. Zwar wurde damit die formale Rechtsstellung nicht angetast – der Schutzstatus der Juden blieb weiterhin bestehen – allerdings hatte sich die Einschätzung des Schutzverhältnisses selbst verändert. Während es sich dabei ursprünglich um ein persönliches Verhältnis zwischen Schutzherrn und Schutzjuden gehandelt hatte, waren im Zuge der Meditisierung und Säkularisierung die dem Schutzherrn zustehenden Rechte auf den Staat übergegangen, der nun das Recht der Schutzerteilung ausübte. Die Juden wurden damit zu Staatsbürgern und Untertanen im weitesten Sinne. Im Ganzen bedeutete dies eine zunehmende Übertragung der allgemeinen Gesetzgebung auf die jüdische Minderheit in dem Sinne, dass der Zuerkennung staatlicher Rechte auch die Übernahme staatlicher Pflichten folgte. Charakteristisch für die Zeit bis 1815 ist dabei, daß das Bestreben der Integration der Juden in den Verwaltungsapparat die jüdische Minderheit insgesamt betraf, dass aber die daraus resultierenden Überlegungen hin zur staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden nur auf das Individuum bezogen wurden (im Sinne einer Belohnung bereits vollzogener Assimilation). 2. Die in diesem Kontext vorgenommenen Modifikationen der Judenordnung zielten deutlich auf die im Großherzogtum ansässigen Schutzjuden ab. Die herumstreichenden Betteljuden wurden ausgeschlossen und die Maßnahmen sahen für sie keine Möglichkeiten der Integration vor. „Das gezielte Vorgehen gegen die Betteljuden [setzte! nicht zufällig zur gleichen Zeit mit der Emanzipation der Schutzjuden ein…“ Die ansässigen Schutzjuden versuchte man mit dem Blick auf eine spätere rechtliche Gleichstellung in den Untertanenverband zu integrieren. Das Problem der Betteljuden wurde internationalisiert, indem man sie über die Grenze abschob. Nach dem Wiener Kongress erhielt die Diskussion um die Emanzipation der Juden einen deutlich anderen Akzent. Die Kritik der politischen Romantik an den Ideen der Aufklärung machte auch vor der Judenemanzipation nicht halt. Antijüdische Ressentiments wurden virulent, die man längst für überwunden gehalten hatte. Allerdings entwickelte sich der in diesen Jahren entstehende Frühantisemitismus nicht zu einer eigenständigen politischen Kraft. Vielmehr verband er sich mit den wesentlichen politischen Bewegungen seiner Zeit und fand in ihnen seine jeweils konservative, nationale oder liberale Ausprägung. Allen drei politischen Bewegungen war es eigen, dass traditionelle, tief verwurzelte antijüdische Ressentiments entweder bewusst aktualisiert wurden, wie bei den Konservativen und Nationalen oder, wie im Liberalismus, zwar theoretisch, häufig aber nicht in der Praxis überwunden wurden. Auf die Judengesetzgebung des Großherzogtums hatte dies insofern Wirkung, als die Gesetzgebung den Erziehungsgedanken und damit die Forderung nach Assimilation nun noch deutlicher in den Vordergrund rückte. Nach der Verfassungsgebung 1820 kam es zu einer Teilemanzipation der Juden. Allerdings klärte die Verfassungsurkunde die Verhältnisse der jüdischen Bevölkerung nicht grundsätzlich. Die Regierung hatte es bei der vagen, z.T. widerspruchsvollen Formulierung von Grundsätzen belassen. In den Verhandlungen des Hessischen Landtages wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden vor allem an der Frage des Eherechts, des Schulwesens und der Ordnung der Religionsgemeinden diskutiert. In den Diskussionen des Landtages wurde immer wieder auch die prinzipielle Frage, wie und in welcher Form die rechtliche Gleichstellung der Juden vollzogen werden sollte, berührt. Dabei herrschte Einigkeit zwischen den beiden Kammern und der Staatsregierung über das Konzept der gestuften rechtlichen Gleichstellung. Sowohl Staatsregierung als auch die Abgeordneten der beiden Kammern gingen von einem „organischen Prozeß“ aus. Auch die Politik der Liberalen (vor allem der rheinhessischen Abgeordneten) befand sich dazu nicht in prinzipiellem Widerspruch, war aber vor allem darauf gerichtet, den Status der rheinhesssichen Juden zumindest abzusichern. Soweit Vorschläge und Initiativen zur Verbesserung des Status der Juden von den Kammern ausgingen, wirkten sie nicht unbedingt beschleunigend. Denn es war ein Kennzeichen des „du Thil’schen Regierungssystems“, dass auch grundsätzliche Regelungen auf dem Verordnungsweg erlassen wurden. Über die gouvernementale Mehrheit der ersten Kammer konnte dies in den meisten Fällen auch durchgesetzt werden. Ein Kennzeichen der Zeit zwischen 1820 und 1830 ist das fast vollständige Fehlen aller positiven Gesetzgebung. Sämtliche politischen Kräfte knüpften die Gleichstellung an Vorleistungen von jüdischer Seite. Allerdings traten nur wenige Abgeordnete als prinzipielle Gegner der Emanzipation auf.s Der Landtag konnte sich aber zugleich zu keiner Zeit zu einer umfassenden Regelung der Rechtsverhältnisse der Juden entscheiden. Die Kammern überließen dieses Feld der Staatsregierung, die jedoch nicht über ein geschlossenes Konzept verfügte. Wichtige Phasen parlamentarischer Tätigkeit wurden durch die allgemeine politische Entwicklung ausgelöst, nicht durch Initiativen, die aus den Kammern selbst kamen.
3. Die innerjüdische Entwicklung
3.1. Demographische Entwicklung
Tabelle 1: Entwicklung der Bevölkerungszahlen im Großherzogtum Hessen (1816-49)
A)Jahr
B)Bevölk. Großherzogtum Hessen absolut
C)Juden Großherzogtum Hessen absolut
D)Juden in % der Bevölk.
A | B | C | D |
1816 | 633.300 | 19.0002 | 3%2 |
1822 | 642.078 | 19.530 | 3.04% |
1824 | 671.779 | 20.600 | 3.06% |
1828 | 687.156 | 20.600 | 3.06% |
1831 | 707.887 | 22.087 | 3.12% |
1834 | 732.449 | 23.692 | 3.32% |
1837 | 752.671 | 24.692 | 3.3% |
1840 | 778.448 | 25.651 | 3.3% |
1843 | 800.468 | 27.255 | 3.4% |
1846 | 817.640 | 28.058 | 3.43% |
1849 | 818.275 | 28.061 | 3.42% |
Die zu den mit 2 bezeichneten Zahlen vgl.: Battenberg, F. a. a. o., S. 113. Alle weiteren Angaben wurden zusammengestellt nach: Statistisches Handbuch für das Großherzogtum Hessen, 2. Auflage, Darmstadt 1909.
Tabelle 2: Juden in den Landgemeinden 1829
Gemeinde | Bevölkerung gesamt | davon Juden | Juden in% Bevölk. |
Bauschheim Astheim Biebesheim Bischofsheim Büttelborn Crumstadt Dornheim Erfelden Geinsheim Gernsheim Ginsheim Goddelau Groß-Gerau Kelsterbach Königstädten Leeheim Mörfelden Nauheim Raunheim Rüsselsheim Stockstadt Trebur Wallerstädten Wolfskehlen |
404 787 1172 668 727 1056 932 673 902 2893 763 552 1719 930 565 936 991 606 497 1422 801 1397 651 833 |
13 15 41 42 14 46 53 25 67 52 22 32 45 46 40 41 45 16 16 83 17 77 33 34 |
3,2% 1.9% 4,3% 6,3% 1,9% 4,4% 5,7% 3,7% 7,4% 1,8% 2,9% 5,8% 2,6% 4,9% 7,1% 4,5% 4,5% 2,6% 3,2% 5,8% 2,1% 5,5% 5,6% 4,1% |
Tabelle 3: erteilung der Juden auf die Landgemeinden nach Größenklassen
A | B | C | D | E | F |
II | 2 | 901 | 3,94 % | 29 | 17 % |
II | 17 | 12.317 | 53,84 % | 542 | 59,23 % |
III | 5 | 6.766 | 29,57 % | 292 | 31,91 % |
IV | 1 | 2.893 | 12,65 % | 52 | 5,68% |
Die Tabelle gibt die Verteilung der Juden auf die einzelnen Gemeinden wieder.62,4% aller Juden lebten in Gemeinden mit weniger als 1000 Einwohnern. 31,92%lebten in Gemeinden mit bis zu 2000 Einwohnern. In der einzigen Gemeinde mitüber 2000 Einwohnern lebten 5,68% der Juden. Wie aus der Tabelle hervorgeht,lebte weit die Hälfte der Juden in kleineren Landgemeinden und waren tenden- ziell noch stärker ländlich geprägt als der Rest der Bevölkerung. 3.2. Jüdisches Leben auf dem Land: Soziale und berufliche Entwicklung Die Mehrzahl der Juden in den Dörfern lebte als Hausierer bzw. Händler. Die Zahl der jüdischen Handwerker war nur gering. Soweit Juden ein Handwerk ausübten, war es unter den zünftigen das Metzgerhandwerk.22 Nur eine geringe Anzahl war als Lehrer, Schächter oder Vorsänger bei den jüdischen Gemeinden angestellt. Diese Ämter waren schlecht bezahlt und wurden deshalb in der Regel von einer Person ausgeübt, so dass sie keine berufliche Alternative zum Handel boten. Die Konzentration der Juden im Handel, der zumeist Hausierhandel war,führte zu einem starken Konkurrenzdruck. Die Ursache dafür lag in der aus fiskalischen Interessen erfolgten, z.T. sehr großzügigen Aufnahme von Juden im 17. und 18. Jahrhundert in die herrschaftlichen Ämtern. Unter den Bedingungen des Schutzstatus der Juden musste dies fast zwangsläufig zu Verarmung und Verelendung der jüdischen Händler führen. Diese Überbesetzungssituation galt auch für Teile des christlichen Handwerks. Im Großherzogtum lebten die Juden, soweit sie über die dazu notwendigen finanziellen Voraussetzungen verfügten, vom Vieh-, Korn- und Landproduktehandel. In aller Regel waren die Juden aber gezwungen, sich dem Schacher und Nothandel zuzuwenden oder sich als Makler zu betätigen. Der Hausierhandel bot, wenn auch zumeist an der Grenze des Existenzmini-mums, eine Verdienstmöglichkeit für Juden, weil er wesentliche infrastrukturelle Lücken für die Landbevölkerung schloss. Im Rahmen ihres Emanzipationskonzeptes der „bürgerlichen Verbesserung“ versuchte die Staatsregierung auf die jüdische Berufs- und Erwerbsstruktur Einfluss zu nehmen. Solche Bestrebungen, die durch z.T. gezielte Berufslenkung darauf abzielten, die jüdische Erwerbsstruktur der der Gesamtbevölkerung anzupassen, werden heute unter dem Begriff der „Produktivierung“ zusammengefasst. Die Juden sollten von den „unproduktiven“ Gewerben abgezogen und den „produktiven“ Berufen, d.h. der Landwirtschaft und dem Handwerk zugeführt werden. In der einseitigen jüdischen Berufsstruktur sah man nicht den einzigen, aber einen wesentlichen Ausdruck der Sonderstellung der jüdischen Bevölkerung. Da diese Sonderstellung von der Aufklärung milieutheoretisch erklärt wurde, erhoffte man sich von der gezielten Veränderung der Berufsstruktur einen Schritt hin zur Assimilierung der Juden. Die Produktivierungsversuche erreichten aber allenfalls eine Modifizierung der jüdischen Erwerbsstruktur. Der Anstieg der jüdischen Erwerbstätigkeit im Handwerk, den die Berufszählungen ausweisen, ist insgesamt nur wenig aussagekräftig. Juden waren in der Regel in denjenigen Handwerken anzutreffen, die sich unproblematisch mit dem Handel verbinden ließen. So war die Verbindung zwischen Metzgerhandwerk und Viehhandel oder die zwischen Schneiderhandwerk und Textilhandel typisch für die Juden, die in den Berufszählungen als Handwerker geführt wurden. Insgesamt waren die „Berufsbilder der Juden oft (…) vielfältig aus Elementen von Handel, Handwerk und Ackerbau gemischt.“ In der Regel blieb der Handel die wesentliche Erwerbsquelle der jüdischen Familien. Die Statistiken täuschen damit über die Kontinuität des jüdischen Erwerbsverhaltens hinweg. Diese Kontinuität war allerdings begleitet von einer Differenzierung des Handels. Aus dem Hausierer, der mit einem breiten Warensortiment über Land zog, entwickelte sich der spezialisierte Händler, der einen offenen Laden führte und über einen festen Kundenstamm verfügte. Lebensweise Während die Juden im wirtschaftlichen Leben mit der christlichen Bevölkerung in Kontakt kamen, lebten sie ansonsten in sozialer und kultureller Absonderung. Sie waren innerhalb des Dorfes eine eindeutig identifizierbare Minderheit mit einer eigenen Tradition, mit eigenen Festen und Gebräuchen und einer eigenen Sprache. Allerdings lebten sie in aller Regel nicht innerhalb eines räumlich abgegrenzten Ghettos. Aus dieser Konstellation von (räumlicher) Nähe und (gesellschaftlicher) Distanz ergab sich eine für das Landjudentum charakteristische Lebensweise. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebte die Mehrheit der Juden in kleinen Gemeinden, mit einem in der Regel nur geringen jüdischen Bevölkerungsanteil. Bis zur Mitte des Jahrhunderts zeichnete sich eine für eine Minderheit typische Tendenz ab, in Orte mit einem höheren jüdischen Bevölkerungsanteil zu ziehen. Dies ging oft einher mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation. Die Wanderung der jüdischen Familien erfolgte, verglichen mit dem Wanderverhalten der christlichen Bevölkerung, zielgerichteter. Die Abwanderung vom Dorf in die Kleinstadt erfolgte häufig dann, wenn der Hausierer sich als Ladenbesitzer etablierte.
Tabelle 4:
Gemeinden Zahl der Zahl der Juden bis zu Gemeinden Juden in % allen ...Juden. Gemeinden 20 6 91 9,95% 40 6 146 15,96% 60 9 413 45,14% über 60 3 227 24,81%
Die Tabelle bezieht sich auf die in Tabelle 2 genannten Gemeinden im Jahr 1829. Das Alltagsleben der Juden wurde durch Religion und Kultus geregelt. Daran änderte sich in der ersten Phase der Emanzipation (1780-1815) kaum etwas. Gesellschaftliches Leben hieß für die Landjuden religiöses Leben. Eine Kultur außerhalb der Religion existierte nicht. Die Veränderungen, die von der (städtischen) jüdischen Aufklärungs- und Reformbewegung ausgingen, stießen bei den Landjuden kaum auf Resonanz, die bis zur Jahrhundertmitte ihre meist traditionellen Lebensformen beibehielten. Organisatorisch wurde der Zusammenhalt der Juden durch die Landjudenschaft geregelt. Sie war neben der Aufrechterhaltung des religiösen Lebens auch für die Klärung von Streitigkeiten zuständig. Daneben erfüllte sie Funktionen „nach außen“, als Vertretung der jüdischen Bevölkerung gegenüber der Obrigkeit. Insofern kann man von einer Selbstverwaltung der Landjuden sprechen.