Auswanderung und jüdisches Selbstverständnis
Liegt das Heil in Palästina? Zionistische Propaganda gegen das Beharrungsvermögen der Assimilierten
In der Frage der Auswanderung schieden sich die Geister innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Trotz Verfolgung und antisemitischer Ausschreitungen plädierten etwa die Mitglieder des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten für den Verbleib in Deutschland, während andere ihre Aufgabe darin sahen, eine möglichst rasche Auswanderung ihrer Glaubensgenossen zu erreichen. Letztere, die zionistischen Organisationen, wurden von den Nationalsozialisten unterstützt, weil der Wille zur Auswanderung ihren – damaligen – eigenen Zielen sehr entgegenkam.
Die Zionisten nutzten das Entgegenkommen der NS-Re-gierung und waren bereit, die Emigration der Juden aus Deutschland zu fördern in der Hoffnung, damit die jüdischen Siedlungen in Palästina durch den deutschen Zustrom zu stärken. Das Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, die Jüdische Rundschau, betrieb Werbung für diese Idee:
„Die Auswanderung der Juden aus Deutschland, die im Jahre 1933 eingesetzt hatte, steht unter dem besonderen Zeichen, dass Palästina das wichtigste Land“ für die Seßhaftmachung der Emigranten geworden ist. Durch eine Verknüpfung historischer Umstände und durch die jahrzehntelange Vorarbeit des Zionismus ist Palästina zu einem Land geworden, das erhebliche Menschenmengen aufnehmen und ihnen Heimat und Arbeitsstätte sein kann. Es hat sich gezeigt, welche Bedeutung der Einsatz nationalen Kapitals in Palästina besitzt und wie sehr dadurch die Entwicklung der Wirtschaft des Landes und seine Aufnahmefähigkeit für neue Einwanderer gesteigert werden kann.“
Eine wichtige Komponente war also in den Augen der Zionisten die Stärkung Palästinas durch deutsch-jüdisches, Kapital. Im Laufe der Jahre sollte sich allerdings zeigen, daß durch die NS-Restriktionen Geld von Emigranten nur noch in begrenztem Maße zur Verfügung stand. Deshalb bemühte sich die zionistische Organisation in erster Linie um die Menschen, die durch ihre Ausbildung für den Aufbau der neuen Heimat in Palästina geeignet erschienen.
Die berufliche Struktur des deutschen Judentums allerdings versprach in diesem Sinne keine großen Erfolge. Es blieb nur die Möglichkeit einer Umschulung auf landwirtschaftliche und handwerkliche Berufe. Und so traten denn die zionistischen Kreise keineswegs für eine überstürzte Massenauswanderung ein. Die Forderung, jene „Umschichtung“ in Deutschland zu vollziehen und erst danach das Land zu verlassen, macht deutlich, dass auch die Zionisten die bevorstehenden Gefahren nicht erkannten.
Der Zionismus half seinen Anhängern bei der sozialen und kulturellen Ablösung von ihrer bisherigen Heimat und gab ihnen eine neue Identität: die Hoffnung auf eine neue, eine jüdische Heimat in Palästina. Nicht wenige im deutschen Sinne national denkende Juden gaben ihre Überzeugung auf und schlössen sich den zionistischen Gruppen an. Der 1919 in Kippenheim/Baden geborene und heute in Israel lebende Erich Valfer beschreibt seine innere Verwandlung als Weg von einem Deutschen jüdischen Glaubens zu einem überzeugten Zionisten.
Dieser „Übertritt“ war allerdings bei den meisten primär von der Hoffnung auf eine Erleichterung bei der Auswanderung getragen. Nach 1933 bedeutete zionistisches Bewußtsein nicht unbedingt eine politische Überzeugung. Es gab jedoch auch Menschen, die geradezu zum Zionismus konvertierten. Wie eine solche Verwandlung vor sich ging, schildert der ehemalige Gemeindevorsteher von Deutsch-Krone in Westpreußen, der 1934 nach Palästina ausgewanderte Edwin Landau, nach dem „Judenboykott“ am 1. April 1933:
„Das war mein Abschied vom Deutschtum, meine innere Trennung vom gewesenen Vaterland – ein Begräbnis. Ich begrub 43 Jahre meines Lebens. Und wäre es nur der eine und einzige Tag solchen Erlebens gewesen, jetzt konnte ich kein Deutscher mehr sein. Und was war ich nun? Zwar war ich ein religiöser Jude, aber doch schon sehr assimiliert… Ich ahnte, dass nun der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens erledigt war, weil wir eine Rasse bilden und keine Glaubensgemeinschaft… Ich sah wie viele Cent-ralvereinler zur neuen zionistischen Ortsgruppe übergingen … So wurde ich nach Jahren Zionist… Für mich selbst aber wurde es ein innerer Aufstieg. Ich wurde ruhiger und fand den Kontakt mit dem neuen Leben wieder.“
Obgleich für die Zionisten eigentlich nur ein Auswanderungsziel in Frage kam, sahen sie doch die Notwendigkeit, alternative Möglichkeiten zu schaffen. Den nicht-zionistischen Kreisen, die in erster Linie um solche anderen Auswanderungsländer bemüht waren, gestand die zionistische Organisation allerdings nicht zu, dafür jüdische Gelder zu verwenden: „… Das Land und die Aufgabe sind da. Dies müssen wir gerade dann feststellen, wenn wir hören, daß in diesen Tagen Projekte realisiert werden, die in gewissen jüdischen Kreisen Deutschlands schon längere Zeit erörtert wurden und das Ziel haben, junge Menschen für eine landwirtschaftliche Siedlung außerhalb Palästinas auszubilden. Gewiss kann eine solche Ausbildung nützlich sein, aber wir fragen: Was soll ein solches Kollektiv-Unternehmen, das mit den Mitteln der Gesamtheit durchgeführt wird, wenn ihm das konkrete Ziel fehlt?
Dieser Streit um die Errichtung des Auswandererlehrgutes Groß-Breesen, des einzigen nichtzionistischen Schulungszentrums für Landwirtschaft und Gärtnerei, wurde in erster Linie in den beiden Organen der Kontrahenten, der Jüdischen Rundschau und der „C.-V.-Zeitung“, ausgetragen. Die „C.-V.-Zeitung“ nimmt in ihrer Ausgabe vom 23. Januar 1936 Stellung zu der Kritik der Zionisten:
„Am 16. Januar fand in den Räumen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland die Gründungsversammlung der jüdischen Auswanderungsschule statt. Die Jüdische Auswanderungsschule setzt sich die Vorbereitung junger jüdischer Menschen für die Auswanderung nach Übersee zur Aufgabe… (Ein) Plan, der schon bei seiner Entstehung den Widerstand gewisser jüdischer Kreise erregte… Es hat auch in zionistischen Kreisen außerordentlich befremdet, dass die Jüdische Rundschau die Indiskretionen ihres ersten Angriffes gegen die jüdische Auswanderungsschule nicht etwa bedauert und zurückgenommen, sondern fortgesetzt hat… Die Angriffe sind nur berechtigt, wenn man das Judentum als einen Annex des Zionismus und nicht etwa den Zionismus als einen engeren Sonderfall jüdischer Gesinnung ansieht… Die Polemik der Jüdischen Rundschau ist aber auch geeignet, in den Kreisen der nichtzionistischen Palästinafreunde lebhafte Zweifel an der Aufrichtigkeit der Argumente zu wecken, mit denen sie für Palästina geworben werden. Schon lange vor 1933 gab es einen beträchtlichen Menschenkreis, der innerjüdisch nichtzionistisch orientiert, den Palästinaaufbau als ein gesamtjüdisches Werk freudig unterstützte.“
Die Unterstützung des Palästinaaufbaus gerade auch von nichtzionistischer Seite verdeutlicht ein Aufruf des Stuttgarter Ministerialrats Dr. Otto Hirsch von September 1933 (Hirsch wurde kurze Zeit später Geschäftsführer der Reichsvertretung): „Es gilt, Palästinas heiligen Boden durch deutsche Juden und für deutsche Juden zu erschließen… Das Entscheidende kann nur durch uns selbst geschehen!“
So verhinderten also die sehr unterschiedlichen Vorstellungen innerhalb der jüdischen Bevölkerung ein gemeinsames Handeln gegenüber dem NS-Staat. Die assimilierten Kreise, wie der Verband nationaldeutscher Juden, der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten und der Central-Verein, erkannten die Gefahren ihrer Aufforderung, in Deutschland zu bleiben und von innen heraus der NS-Politik zu widerstehen, viel zu spät. Der „geistige Widerstand“, wie ihn der von Martin Buber beeinflußte Zionist und Pädagoge Ernst Simon nannte, mündete in der berühmten Aufforderung des Redakteurs der Jüdischen Rundschau, Dr. Robert Weltsch: „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck.“ Nach Ende des Krieges machte sich der 1938 nach Palästina ausgewanderte Weltsch, wie viele andere, den Vorwurf, die Gefahren nicht rechtzeitig erkannt und die Auswanderung nicht mit Nachdruck propagiert zu haben.
Statt einer organisierten Auswanderung stand etwa bei den Mitgliedern des Centralvereins der Geist des „Ja-Sa-gens“ zum Judentum im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Die Assi-milanten beriefen sich auf ihr „Heimatrecht“. Der Gedanke an eine Auswanderung wurde in der ersten Phase der NS-Judenpolitik noch von vielen Gruppen eindeutig negiert. Charakteristisch hierfür ist die Ansicht des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten:
„Der RJF sieht die Grundlage seiner Arbeit in einem restlosen Bekenntnis zur deutschen Heimat. Er hat kein Ziel und kein Streben außerhalb dieser deutschen Heimat und wendet sich aufs schärfste gegen jede Bestrebung, die uns deutsche Juden zu dieser deutschen Heimat in eine Fremdstellung bringen will.“
Ein Schreiben von Dr. Leo Löwenstein, Gründer und weltanschaulicher Leiter des Reichsbundes, an Hitler zeigt, dass die Vorschläge des Bundes immer wieder die Bitte mit-einschlossen, die alteingesessenen jüdischen deutschen Familien besonders zu berücksichtigen. Dabei wird deutlich, dass man in der Illusion lebte, nur den „zugewanderten“ Juden würde eine schlechte Behandlung widerfahren. Viele glaubten, die NS-Verfolgung sei nur auf die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eingewanderten Ostjuden zurückzuführen.
Die „Nürnberger Gesetze“ machten dann den Juden den bitteren Ernst der Lage klar: Ein jüdisches Leben in Deutschland hatte keine Zukunft mehr. Bis dahin war für die assimilierten Kreise die Auswanderung „eine“ Lösung,
für die Zionisten „die“ Lösung. Nun blieb nur noch „die“ Lösung. –
Die Reichsvertretung konzipierte denn auch ihr Programm neu. An erster Stelle stand immer noch die jüdische Erziehung. Zur zweiten Aufgabe wurde die Förderung der Emigration erklärt:
„Dem gesteigerten Auswanderungsbedürfnis ist mit einer großzügigen Planung zu entsprechen, die vor allem Palästina, aber auch alle anderen in Frage kommenden Länder einbezieht und besonders der Jugend gilt. Hierzu gehört die Sorge für die Vermehrung der Auswanderungsmöglichkeiten, Ausbildung in für die Auswanderung geeigneten Berufen, insbesondere Landwirtschaft und Handwerk, die Schaffung von Möglichkeiten zur Mobilisierung und Liquidierung des Vermögens wirtschaftlich Selbständiger, die Erweiterung bestehender und die Schaffung neuer Transfermöglichkeiten.“
Auch der Centralverein sah die Situation jetzt mit anderen Augen: „Unsere Beziehungen zu der deutschen Umwelt haben sich geändert… Die neuen Realitäten haben unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten verändert.“
Nachdem sich nun die Überzeugung allgemein durchgesetzt hatte, dass nur die Auswanderung eine wirkliche Lösung bringen konnte, galt es laut Robert Weltsch für die Juden in Deutschland,
„in einer präzedenzlosen Lage und gesetzlichen Unsicherheit eine Möglichkeit zu suchen, innerhalb des engen Raumes, in den sie verbannt waren, ein Maximum an nützlichen Einrichtungen zu schaffen, um den besonders hart betroffenen Menschen zu helfen und einen – möglichst geordneten -Übergang zu einer anderen Existenz, für die immer deutlicher nur die Auswanderung eine Möglichkeit eröffnete, vorzubereiten. Das war das einzige, was in Deutschland damals noch getan werden konnte.“